merah.de

Christa Ritter's Blog

Die 68er Vision war mehr als Öko

| Keine Kommentare

Heute noch vor dem Frühstück gelesen: Jean Ziegler, der engagierte Menschenfreund im SZ-Interview über den Kapitalismus. „Es gibt keinen Produktionsprozess, der kreativer und dynamischer ist.“ Ja, er hat uns bis über die Ohren mit Konsum beschenkt und verstopft, denke ich und lese weiter. „Auf der anderen Seite hat er eine kannibalische, mörderische Weltordnung geschaffen. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind, das jünger das zehn Jahre ist. Im Kapitalismus geht es um Gewinnmaximierung in kürzester Zeit zu jedem menschlichen Preis.“ So Ziegler weiter. Besser umverteilen? An Frauen, Schwarze, Kinder? Ginge nicht, so Ziegler. Die 500 größten Privatkonzerne hätten eine wirtschaftliche und politische Macht, wie sie kein König, kein Kaiser, kein Papst auf diesem Planeten je hatten. Eigentlich nichts Neues, doch wow! Das ist unser Faschismus, denke ich. Die Konzerne sind wir, die fallen ja nicht vom Himmel. Wir Konsumenten sind Teil des unseres eigenen faschistischen Spiels. Vor allem Frauen. Wir kaufen immer noch das Meiste von dem, was Männer herstellen. Vor allem Frauen konsumieren den Planeten kaputt, leider wahr. Und wollen jetzt auch noch dafür genauso gut bezahlt werden wie Männer.

Es geht also nicht darum, hier und dort ein bisschen die Welt zu verschönern. Ein wenig mehr öko, ein bisschen mehr vegan. Oder seht ihr das anders? Die Grünen als derzeit Beliebtesten, wollen auch nur renovieren. Aber es ist ja kein Zufall, dass immer mal wieder Grundsätzlicheres angefragt wird: Wo ist eine Utopie, wer hat eine Vision? Gemeint: eine andere, eine bessere Welt. Denn, ja, es geht um viel mehr. Um eine Realität hinter der Realität, nicht um Flickflack. Auch heute, aber im Boulevard gelesen: Keine Shopping-Queen preist an , dafür erklärt sich ein Mann, einer unserer beliebtesten Schauspieler, Anfang 50. „Ich fahre einen SUV, den brauche ich, weil ich 4 Pferde habe. Die muss ich in einem Anhänger mal transportieren können.“ Wir Ältere: Ich brauche, ich habe, ich konsumiere. Gestern Mittag besuchte ich hier in einem Schwabinger Hinterhof eine Freundin, die auch zu dieser Generation gehört. Früher wurde diese Nachfolgegeneration häufig „Sandwicher“ genannt. Sie waren gegen uns 68er, schon aus Prinzip sich unbedingt absetzen zu müssen. Schnell im Rückwärtsgang etabliert, spießig.

Rainer Langhans and me (vielleicht um 1996)

Wir saßen dann gestern auf Klappstühlen vor einem hübschen Garten-Kasten. Darin liebevoll gezogener Mangold, Zwiebeln, Dill, Rosmarin, Salat. Sonne. Idylle rundherum. Die Freundin und ihre jüngere Schwester. Die eine geschieden, die andere zwei Jahre verheiratet. Erstere hat vier Söhne von verschiedenen Männern, eine sehr schöne, kluge Frau. Ich hätte unser Gespräch über die Fridays for Future und deren Eltern, also ihre Sandwicher-Generation gern als YouTube-Video gedreht. Was sagen die Älteren, die von den Jungen herausgefordert werden? Nein, ein Statement vor I-Phone lieber nicht, wehrt sie ab. Zu öffentlich, riskant, der sichere Shitstorm. Sie fände Greta griesgrämig, die Schwester lacht und widerspricht. Asperger, sagt die Schwester, das sei auch ihr Mann. Die kennen keine Gefühle, Greta sei mutig. Dieses Mädchen sieht unsere Lügen überdeutlich, die verletzen sie, kein Mut nötig, werfe ich ein. Was machst du als Mutter von Jungen, die eine liebenswerte Zukunft verlangen, frage ich, lebenswert. Und muss über den Versprecher lachen. Ist keiner? Lebenswert, wann ist das Leben, sind wir liebenswert? Wenn der Planet stirbt, weil die Natur sich zurück zieht in den Tod. Ich überlege: So materiell gesehen bleibt die Frage ein Öko-Thema. Verlegenheit unter uns, nachdenken. Der neue Mensch, bisher ein Traum: Aber es gibt die Nerds, die Asperger, immer mehr Autisten, murmele ich. Sich alles verbieten, woran man gewöhnt ist, bringt nichts, macht depressiv, aggressiv, da sind wir uns sofort einig. Eine Vision klingt anders.

Bleibt nur der Weg in das Internet: Fantastisch, wie nicht nur superschnell wir eigentlich ständig auf Sendung sind, mit allen und jedem. Was für ein Reichtum in diesem Neuland ständiger Liebesbriefe. Viel besser als jeder Konsum der alten Art. Denn hier ernähren wir uns virtueller, schließen Freundschaften ohne die Körper, selbst wenn wir auch hier noch bezahlen müssen. Shitstorms, gigantische Server-Hallen. Die Freundin lacht und schüttelt doch zweifelnd den Kopf. Nee! Skepsis, sie überwiegt. Ich denke: Wir können noch immer nichts Schönes zulassen, der längst positive Umstieg darf nicht wirklich sein. Da hat Jean Ziegler recht: Wir kleben. Am Kapitalismus, an unserem Faschismus. Auch hier im Hinterhof, als gebildete Mittelschicht, links-liberal, weltoffen.

Etwas Schöneres darf eben nicht sein, dieses Virtuelle, Geistigere. Auch bei mir nur schwerlich. Kriegskind bin ich, okay, schwerer Fall, aber die beiden vor mir? Die jüngere Schwester bremst erneut: Diese Smartphones führen zur Sucht, hat man untersucht. Dieses Starren aufs Display macht krank, so viele Psychiater hätten wir gar nicht. Und meine Freundin nickt mit dem Kopf und überlegt: „Meine Generation ist stinkfaul. Da ändern auch die Demos der Jungen nichts. Die wollen nichts verändern.“ Was, die Eltern bleiben ihren Kindern die Antwort auf ihre Fragen schuldig? Frage ich. Pause. Wie hübsch, dass sich ein Zitronenfalter hier nach Schwabing verirrt, er flattert auf einer gelben Rose. Leute treten aus dem Hinterhaus, schauen uns interessiert an. Vater, Mutter, zwei Kinder. Wie überall im Land boomt auch hier die Familie. Weniger eng als früher, durch das Internet durchaus erweitert. Communities? Wird noch nicht verstanden? Es geht uns öko-gut, wir wählen grün und Habeck schaltet sein Twittern ab. Nur ab und zu ein heißer Sommer, Minister Müller bestätigt die rasante Abholzung des brasilianischen Urwalds, weiterhin keine Utopie in Sicht. Wie lang die FFFs wohl weiter demonstrieren? Bis es mal richtig knallt, mitten in Berlin?

Die Freundin öffnet einen Picknick-Korb: Kartoffelsalat. Ist vegan, sagt sie. Ziegenkäse mit Basilikum, Humus. „Dazu habe ich hier schönes Brot, musst du mal probieren.“ Ich bin dann bald in den Park gegangen, hab mit meiner Kommunen-Family Tischtennis gespielt. Rainer haute mir die Bälle um die Ohren. Er hat eine Utopie, die er lebt, eine Vision, dass alle auf dem Weg sind. Hinter den depressiven Fassaden. „Mir geht es gut,“ sagt er manchmal, wenn jemand fragt. Du siehst, was du bist, hat das nicht auch mal jemand gesagt? Jemand aus dem Osten? Vielleicht hat Jean Ziegler in Wirklichkeit gar nicht recht und es geht vor allem um eine neue Brille. Ob das die Fridays for Future-Jungen im Grunde schon wissen?

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Zur Werkzeugleiste springen