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Christa Ritter's Blog

Die Mitte der Dunkelheit

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Die uns besuchten, fragten auch mich manchmal: Warum mutest du dir so etwas zu? Mach dich vom Acker, diese Leute tun dir nicht gut, sind Geistesgestörte. Ihr seid gestört, dachte ich dann zurück, ihr wisst ja nichts. Und ich fühlte mich bestätigt, wenn sie wieder abzogen. Schon fragte der Nächste irritiert und Rainer antwortete: Die vier Frauen wissen, für mich zählt der innere Krieg, dagegen ist alles andere Pipifax. Sie haben sich für denselben Weg entschieden, schaffen es aber noch nicht, dafür auch Verantwortung zu übernehmen. Frauen seien heute doch endlich selbstbewusst, nie so erloschen wie wir, lautete häufig der nächste, scheue Einwand der Neugierigen. Erloschen? Spinnen die?

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Bisher hatte wohl unser anspruchsvoll widersprüchlicher Alltag in seiner unsäglichen Achterbahnfahrt durch die eigene Hölle nur uns selbst beflügelt, während wir für ein altes Leben immer mehr verblassten. Gut so, dachte ich, einen offenen Weg der Selbstentdeckung hatte ich unbewusst schon als junge Frau gewollt und ich spann mir meine Zukunft in Bildern zunehmender Freiheit zu recht: Durch diese Arbeit mit Rainer und den Frauen werde ich nie mehr für schnödes Geld entfremdet arbeiten, sondern nur noch das tun, was mir Freude macht, weil ich daran wachse. Die Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft, die alten Werte schienen Anfang der Achtziger weiter zu bröckeln: Wir entwickeln uns zu Brüdern und Schwestern! Auch Frauen werden lernen, sich nicht nur über einen Mann zu entdecken, sondern sich zunehmend für andere Menschen zu öffnen, sogar bisherige Rivalinnen  für ihr Leben wesentlich zu finden. Der Harem als Modell einer weiblichen Kommune wird vielleicht sogar von immer mehr Frauen angenommen, um sich frei ausprobieren zu können. Nach den Beziehungskisten in die weltweite Community des Internets: Wer bin ich?

Während seines TV-Interviews auf unserer Lieblingswiese, unserem Garten, unter der Weide im Luitpold-Park: Gewonnen haben die Frauen, erklärte Rainer in vollem Widerspruch zu unserem Schweigen einem BR-Reporter. Der Reporter hatte ihn zur Revolte gefragt, die später als RAF im Krieg unterging. Alles verloren?

Haben wir nur geträumt? Erinnerungen an die Zukunft (an der Würm)

Haben wir nur geträumt? Erinnerungen an die Zukunft (an der Würm)

Rainer ließ sich nicht beirren: Die harte Seite habe zwar verloren, zu recht, aber die weiche gewonnen. Das sei die Kommune I als Urzelle gewesen, in der es ganz praktisch darum ging, sich selbst zu revolutionieren. Erst diese Arbeit an sich selbst verändere alles, seitdem auch durch und durch unsere Gesellschaft. Erste zaghafte Experimente zeigten sich überall: Offene Beziehungen in Landkommunen, weniger Konsum, mehr Phantasie an die Macht. Ihr müsst euch also entwurzeln, murmelte der Reporter, der verstanden hatte, und schaute uns vielsagend an. Müssen, müssen, müssen. In mir schoß plötzlich Wut hoch: Halt die Klappe, du angestellter Medienwurm! So viel Krieg ließ ich nur in meinem Kopf zu, während Jutta behauptete: Frauen kennen sich noch nicht. Was ist eine Frau, was ein Mann? Stille.

mit Anna, Brigitte, Rainer...

mit Anna, Brigitte, Rainer…

Rainer übernahm: Die deutsche Frauenbewegung hätte die Selbstbetrachtung vermieden, hätte stattdessen nur den Mann an den Pranger gestellt. Nur der Mann einer patriarchalen Welt war für die Feministinnen böse, unterdrückte die Frauen. Das Private sei bei dieser reduzierten Sicht nur beim Mann politisch geworden. Die Frau war an nichts beteiligt, war als Sklavin verblasst? Auf so einseitige Weise sei die Frauenbewegung in die Sackgasse gefahren. Entsprechend wenig wüssten auch wir Frauen um Rainer nichts von unserem Schatten, nichts über unser eigen-williges Gesicht und wie ein Mann wollte keine werden.  Nach einer Stunde weiterer Fragen und Antworten zur Kommune I und natürlich ihrer bekanntesten, schönsten Protagonistin Uschi packte das TV-Team zufrieden sein Equipment ein. Wir Frauen, die bisher zugehört hatten, wollten dann doch weiter an diesem Thema bohren. Ewig und immer diese Fragen nach Uschi, raunzte ich. Vielleicht könnten wir mal die Archetypen bemühen, sagte auch Jutta genervt, denn ich weiß nicht, was ein Mann ist. Wie ist ein Mann? Schweigen unter den von der Frauenbewegung geduckten Männern, Weicheier-Blicke wanderten. Viel wichtiger, so der Tonmann zaghaft, sei doch hier: Wie ist eine Frau? Frauen waren zu jenem Anfang der Achzige Jahre nicht nur für uns, sondern allgemein noch immer eine ziemlich unbekannte Spezie. Frauen sind noch  keine öffentlichen Gesprächspartner, es gibt sie noch nicht, begann Rainer. Sie seien in der Öffentlichkeit noch nicht als eigenständige Menschen zu sehen. Nur immer: an seiner Seite. Ob sie je die gleiche Augenhöhe erreichen?

Fahrräder lösen langsam unsere Autos ab - Links bin ich

Fahrräder lösen langsam unsere Autos ab – Links bin ich

Wir fühlten uns durch diese Äußerungen vor den Fernsehmännern bloßgestellt, knurrten und murrten. Mann und Frau, wie kann man die schon so einfach im männlichen Täter-Opfer-Muster vergleichen? Aus der Aktentasche des Reporters schaute der neue Stern raus: Wir haben abgetrieben outeten sich darin Promi-Frauen. Ein Aufruf gegen das Verbot der Abtreibung. Rainer deutete beiläufig auf den Titel: Ein wichtiges Thema. Der Reporter wurde hellhörig, bat, die Kamera wieder aufzustellen. Schon nutzte Rainer die Gelegenheit und provozierte: Das Patriarchat scheint tatsächlich am Ende angekommen zu sein. Wenn bisher Männer von Abtreibung sprachen, taten sie es allein. Ohne Beteiligung der Frauen, sie also Gesetze mitgestalten zu lassen, sei bisher aber jedes Gesetz einseitig, also primitiv gewesen. Weil die Frau unmündig blieb, konnte bisher kein Gesetz stimmen, auch das gegen Abtreibung nicht. Wie man am Stern nun sehen könne, sind die ersten Frauen bereit zur Diskussion. Nicht wirklich? Diese Prominenten wollten uns sagen, so Rainer weiter, dass Frauen zwar für das Leben sind, aber merkwürdigerweise gleichzeitig auch für die Abtreibung. Immerhin sei mit diesem Widerspruch ein erstes ernsthaftes, gemeinsames Gespräch eröffnet. Ein Gespräch, das zum ersten Mal den spezifisch weiblichen Lebensbereich einschließen könnte. Vorher sei jedes gerechte Gesetz unmöglich. In einer Situation der gesellschaftlichen, auch gender-mäßigen Umorientierung, so Rainer weiter, ginge es nun wohl darum, alle zu hören, jeden mit seinem Beitrag. Weibliche Menschen werden sich von jetzt an auch am Thema Abtreibung beteiligen, so sehe es aus. Bisher hätten es Frauen allerdings vorgezogen, an der Natur nur teilhabende, damit ungeschichtliche Menschen, also Opfer zu bleiben. Bisher seien Frauen mit ihren wichtigsten Themen wie Beziehung und Liebe nie öffentlich gewesen. Die aber hatten ausschließlich mit dem Erhalt der Art zu tun, waren daher instinktiv und zwanghaft strukturiert. Sobald nun die Frau mehr sein will als nur Biologie und Körper, wird sie leiden müssen. Denn, das wissen die Männer, Bewusstwerdung ist eine leidvolle Angelegenheit. Kriege…

Rainer zündelte weiter: Zunächst ist auffallend, wie grausam die Frau ist.   Schon verdrehten wir Frauen die Augen, hörten aber doch gespannt weiter zu. Rainer unbeirrt: Man sah das sehr gut bei den Terroristinnen, auch in den KZs waren Frauen weitaus grausamer als Männer. Wir hättenweibliche Heimtücke aus der Geschichte kennen gelernt: Frauen benutzten Gift oder unsichtbare Waffen. Die Frau schaut also ihrem Gegner nicht in die Augen, sie nähert sich hinterrücks: Sie meuchelt, er mordet. Der Mann kennt den offenen Kampf von Angesicht zu Angesicht und hält schon jemanden, der in den Rücken schießt, für feige oder nennt ihn weiblich. Der Kampf des Mannes läuft also über den Geist und der sitzt im Kopf: Bewusstheit sitzt in den Augen. Und dort trifft sich beider Geist. Jemandem, dem du nicht in die Augen siehst, kannst du nicht bewusst begegnen. Wenn die Frau also in ihrem Kampf den Rücken statt die Augen sucht, verhindert sie Bewusstheit. Sie will den Geist nicht sehen. Vergleichbar ist der Kindsmord, die Abtreibung. Ich sehe hier die hinterhältigste Form, indem man jemanden in seinem unbewussten und hilflosesten Stadium erwischt. Dagegen ist der Kampf des Mannes immer ritualisiert, also schon lange kultiviert. Er beinhaltet Geistiges, selbst in den heutigen Maschinen, wo der Gegner immer noch eine Chance hat. Der Mann hat sich durch viele Kriege eine lange Kultur erschaffen. Selbst seine Massentötung ging zuvor über unendlich viele Stufen geistiger Kommunikation, bis sie schließlich durch Unauflösbares zum Ende führte. Selbst die Atomspaltung hatte lange Vorläufe: einen enormen Input kultureller, technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse, sich in dieser Welt Schritt um Schritt zurechtzufinden.

Brigitte (li.) und Anna

Brigitte (li.) und Anna

Für den Mann ist also die Kindstötung, die wir Abtreibung nennen, völlig unverständlich, so Rainer weiter. Nach seinen Kriterien wird hier die feigste Form der Vernichtung eines gleichrangigen Wesens betrieben. Es ist ein Wesen aus eigenem Fleisch und Blut, das im intimsten, im innersten, im biologisch wertvollsten Teil der Frau entsteht. Missversteht mich nicht, sagte er. Wir reden jetzt nicht aus individueller Sicht. Wir reden aus männlicher, aus der vielleicht schehrenschnitt-artigen, daher vergewaltigenden Sicht des Archetypus. Aber ich kann uns hier dieses Thema nur erarbeiten, wenn dieses Grundmuster auf dem Tisch legt. Wir sollten auf jeden Fall das Anstößige einer solchen Definition der Archetypen wirken lassen, um erst danach vielleicht auch dem individuell Bewussten näher zu kommen. Auch jeder Einzelfall wäre dann genau zu prüfen. Der weibliche Krieg wird immer verborgen im Privaten geführt, egal, wie viel Kriege die Männer draußen anzetteln. Im Gegensatz zum Krieg der Frau ist der des Mannes abhängig von einem kollektiv ritualisierten Geschehen, zu dem Verständigung in der Welt gehört. Die Frau folgt nur ihrer inneren Bestimmung ohne Beteiligung anderer. Daher bleibt das weibliche Wesen unfähig zur Gemeinschaft. Ohne die Frau gibt es überall Männergemeinschaften, aber ohne Männer keine der Frauen. Die Frau bezieht sich eben nie auf andere Frauen, nur ausdrücklich auf das Nest bauende und Nahrung herbei schaffende Männchen. Damit ist sie wie ein Tier: Frauen lassen sich umwerben und sind dann am Nestbau interessiert. Mehr nicht. Solange das Kind in ihr noch ungeboren wächst, wohnt es in einem naturfixierten Schutz, gehört es der Frau, ist nichts eigenständig Fremdes.

Jutta mit Severin

Jutta mit Severin

Das Kind ist daher ihr Stolz, ihr Reichtum, ihre Bestätigung. In primitiven Gesellschaften sei das gut zu sehen: Eine Frau ist nur so viel wert, wie sie Kinder hat. Erst wenn sie nicht nur reproduktiv wahrnimmt, sie diese fremde Welt des Mannes zulässt, kann sie auch das Kind loslassen. Denn jetzt sei sie bereit, sich dem Terrain des Mannes auszusetzen, das sie und das Kind bisher nur gefährden konnte. Nach dieser Öffnung zum Mann und der Welt hin ist kein Frieden mehr, wird Krieg möglich. Statt nun in dieser Bedrohung mehr Kinder zu gebären, damit sich ihre Macht vergrößert, verliert die Frau in der neu zugelassenen Verbindung beider an Kraft. Es sieht so aus, als verliere die Frau, sobald sie sich dem Mann und seiner Welt, zum Beispiel einer Ehe aussetzt, sogar ihr Kind. Es wird seinen Namen tragen. Um sich die große mütterliche Lebenskraft dennoch zu erhalten, wäre es also besser für sie, kinderlos zu bleiben. Das ist ein Konflikt für sie. Statt zur großen mächtigen Mutter zu werden, stärkt eine Frau, die auf den Mann zugeht, die Kraft des anderen, nämlich des männlichen Prinzips, das sie mit seiner weltlichen Macht auslöschen wird. Seitdem diese sie vernichtende Option existiert, gibt es auch eine weibliche Gegenwehr, die Kindsmörderin: Noch während die schwangere Frau allein mächtig ist, ermordet sie den Fötus vor der Geburt. Nur wenn sie ihre Macht durch Mord erhält, wird sie nicht durch den Mann ausgelöscht. Sie kann sich als reproduktionsfähiges Wesen selbst allein weiter bestätigen, also sich selbst retten. Gleichzeitig kann sie dem kleinen Wesen durch seinen Tod den Eintritt in die geistige Welt des Mannes entziehen. Wie gesagt: Ich rede hier von der reinen Instinktwelt, nicht vom Individuum. Meine Erfahrung ist, dass Frauen zum Zeitpunkt der Geburt mit der Welt der Männer nichts mehr zu tun haben wollen. Sie ziehen sich total zurück. Daher könnte man fragen: Hatte der Mann überhaupt je etwas mit der Zeugung zu tun? Denn in dem biologischen Vorgang der Geburt existiert der Mann für die Frau nicht. So als sei ihr die Schwangerschaft einfach von irgendwoher zugeflogen. Eine Frau scheint den Mann, was seinen Beitrag des Besamens betrifft, einfach nicht ernst zu nehmen. Sie schmeißt ihn geradezu raus, als könne er ihr gefährlich werden. Auch hält sie ihn auf Distanz, weil sie seine Rolle nicht kennt. Sie ist so tief in ihrer Welt versunken, dass sie den Mann in seiner ihr fremden Welt total ignoriert. Sie weiß nichts davon. Seinen Anteil gibt es nicht, er wird sogar weggebissen.

Stille: alle schwiegen. Nur Rainer war nach wie vor in Fahrt: Frauen sind nicht die besseren Menschen, das wissen wir. Ist also die Friedfertigkeit der Komplizin, die dem Mann den Rücken frei hielt, mehr als fraglich?  Können wir uns zwischen Mann und Frau noch Verbindungen leisten, wo man sich schont: Sag ich nichts über deinen Schatten, sagst du auch nichts über meinen. Diese Beziehungen haben uns an den Abgrund gebracht. Wir emfinden sie zunehmend als verlogen. Wie aber sieht die dunkle Seite des Mondes aus? Inzwischen sind Frauen gesucht, die nicht Männer, sondern sich selbst suchen. Männer können dazu eine Hilfe sein. Umgekehrt ebenso. Den totalen Krieg nach innen nehmen, das gilt heute für beide. Und damit suchen beide einen neuen Bund. Viel Arbeit bis dahin, wie wir bei uns hier sehen. Ihr habt euch zu Fünft nur einen Mann gesucht, damit ihr nicht verblödet, stattdessen genug Freiraum habt, euch auf euch selbst zu konzentrieren. Zu anfällig seid ihr als Frauen bisher für die alte Beziehungskiste. Wir haben uns dadurch auf einen verrückten Weg machen können: In die verborgene Geschichte der Frau oder Das Reich der dunklen Madonna. Stille. Wir schwiegen noch eine ganze Weile und ließen uns von den Schwingen dieser bedrohlichen Bilder tragen. Wohin?

Nach Rainer’s langem Monolog, den ich automatisch versuchte abzuwehren, war ich aber doch auch beeindruckt und daher berührt. Archetypisches schien ganz unmittelbar zu wirken. Still gingen wir auseinander. Das TV-Team packte zum zweiten Mal ein.

Anna

Anna

Damals scheuchte uns in unserer splendid isolation eine neue Dringlichkeit auf: Rainer sah seine Phase des Rückzugs als beendet an, er wollte das in der Zurückgezogenheit Erlebte in die Welt tragen. Mit uns als selbstbewusstere Gefährtinnen? Ich sah uns Frauen immer noch als verpuppte Schmetterlinge, vor allem ängstlich, dahinter böse, zart und verletzlich, den erhofften Eigen-Sinn konnte ich kaum entdecken. Den fürchtete ich insgeheim sogar: Nichts wusste ich, schmückte mich nur immer wieder mit seinen Federn. Ich war nicht zu mir gekommen. Kein bisschen. Dieser eine Mann unter uns Frauen faszinierte mich uneingeschränkt, die Frauen um mich nahm ich als weitaus weniger wichtig wahr. War ich auf dem falschen Dampfer gelandet? Rainer dagegen ließ sich nicht beirren. Er hatte die Idee, seine Sammlung von Lebensregeln der dritten Art mit uns als Buch selbst privat zu verlegen. Als eine Art erstes Coming-Out. Mit diesem Projekt würden auch wir Frauen uns, anders als früher, zum ersten Mal draußen in der Welt als eigenes Gesicht entdecken. Unser erklärter gemeinsamer Plan: Kein Produkt nach bekannten Regeln des Marktes, Weibliches als Persönliches sollte mit enthalten sein. Diese Eigen-Produktion von Die Mitte der Dunkelheit begann ich aber nur mit gespanntem Zögern. Satz, Papier, Druckerei, Vertrieb: Wie geht das? Jedes Teil sollte unserem Studium entsprechend und passend zum anspruchsvollen Text dem eigenen Inneren entsprechen und eigenwillig erfunden werden: die Schrifttype, das Layout, die Bindung, das Papier, selbst das Foto von Rainer, das auf einer der ersten Seiten mit Hand einzeln aufgeklebt wurde. Selbst-Erfindung: Nichts wird es so schon mal gegeben haben, erzählten wir uns. Es war dann vor allem die lange Suche nach einem Papier, die mich trotz aller Zweifel fesselte. Es sollte ein ursprüngliches, einfaches Papier sein, ungebleicht. So etwas Natürliches war in unserer reichen Republik nicht zu bekommen, nur italienische Muster trafen ein wenig unsere Vorstellung. Bei einem Besuch in Jena entdeckten wir Schulhefte ohne jedes Chichi. Als ich davon inspiriert in Ost-Berlin eine VEAB-Zellstoff- und Papierfabrik besuchte, entdeckte ich tatsächlich in einer dunklen Ecke einen Rest Papier, der ausgemustert werden sollte. Es war ein sehr grobes Papier, selbst für die DDR nun zu unscheinbar geworden. Die Menge reichte für unsere stolze Auflage von 5.000 Stück und kostete weniger als preiswert. Auf der Oberfläche konnte man wunderbar mit den Augen spazieren gehen: Buchstaben und Zahlen entdecken, Holz- und Pflanzenreste. Schon das Papier erzählte also eine geheimnisvolle Geschichte. Der erste Drucker, den wir sprachen, wehrte ab. So ein Papier sei zwar wunderschön, da könne er uns folgen, wird aber seine Druckwalzen perforieren. Es dauerte eine Weile, bis wir einen risikofreudigen Drucker auftaten. Neben mancher aufkommenden Entdeckerfreude geriet diese Produktion aber doch für mich zu einem Abenteuer, bei dem ich immer wieder aussteigen wollte. Wir erfanden zum Beispiel eine neue Art des Geschäfts, indem wir zum Produktionsetat nur die Gelder rechneten, die wirklich gut waren, die also zum Gelingen beitrugen und nicht zu unserem Lernen. Das Lernen sei nämlich unser Gewinn, den wir nicht den Käufern weiter berechnen sollten. So versuchten wir enthusiastisch, auch immer wieder Zähne knirschend, eine saubere Geschäftsführung.048d9eb7863195bd9c2376ab9d7a986b_image_document_large_featur

Dann stand hinten in unserem wunderschönen Buch für alle Leser eine unfertige Geschichte: Es war einmal, da wurde ein Buch geboren und wollte nun seinen Weg gehen. Dazu brauchte es ein Kleid, das richtig für es war. Einfach sollte es sein und in Liebe gefertigt – doch solch ein Kleid vermochte niemand zu verkaufen. Nun war guter Rat teuer. Es suchte lange. Wer will dienen und wissen? Wer will gutes Geld verlieren? Wer will das Gute, das er schafft, mit anderen teilen, und die Trauer, die er noch trägt, auf eigene Kosten heilen? Wer sucht tiefes, kühles Alleinsein im ewig warmen wir? Kurzum – wer sucht eine schöne Geschichte im groben Stoff? Doch, es gab dann Einige, die wollten es versuchen… Und das Kleid – es beginnt schon, nach etwas auszusehen… Obwohl Vieles immer wieder aufgetrennt werden musste… Weiter. Wir haben uns überlegt: Es ist besser, wenn sich jeder sein Buch selber und ohne Zwischenhandel besorgt… Dieses Buch ist ein Privatdruck. Es ist keine Ware und kein Geschenk. Freibleiben und im einfachen Tausch dafür DM 6,– plus Porto und Verpackung. Das ist der Betrag, der für den käuflichen Anteil an seiner Herstellung aufgewandt werden musste. Was wir getan haben, war gut für uns und sollte nicht zu einem Teil des Preises werden.

Anna zirkelte in langem Hin und Hers ein schwarz/weiß Foto von Rainer, das vorn in jedes einzelne Buch per Hand geklebt wurde. Warum eigentlich keins von uns allen? Ein solcher Gedanke kam uns braven Schülerinnen nicht in den Sinn.

Ich las eine Kurzbesprechung: Das ist ein außergewöhnliches Buch. Das geht schon los bei der Aufmachung. Es ist auf schlichtes Packpapier gedruckt und hat einen grauen, stabilen und schmucklosen aber haltbaren Deckel. Und es geht weiter mit jeder Zeile, die drinnen steht. Es sind Texte, die uneingeweihten Leuten ganz schön den Kopf verdrehen können. Es werden alle Gebiete menschlichen Lebens und des Todes behandelt. Es ist auch ein Protokoll dessen, was Rainer Langhans in den letzten zehn Jahren gemacht hat. Er war, wie viele noch wissen, ein Exponent der Studentenrevolte. Schlagworte wie Kommune, Happening, Freie Liebe u.ä. eilen seiner Person voraus. Wer ihn aus der damaligen Zeit kennt und in den gleichen Kategorien wie damals noch immer denkt, wird sich sehr über die Texte wundern. Hier spricht ein ganz anderer Rainer Langhans zu ihm. Es ist schier unmöglich, die Fülle der Gedanken, die hier ausgebreitet werden, auch nur anzudeuten und die geistigen Tabus zu erwähnen, die hier angepackt werden. Die Liebe kennt kein Gesetz. Gedanken sind aus Stoff, feinstem Stoff und sie sind sehr mächtig. Du bist, was du siehst, was du siehst, bist du. Kümmere dich um deine Angelegenheiten, denn nur du kannst es. Liebe (erst dann) deinen Nächsten wie (zuvor) dich selbst. Die Texte sind eine Fülle von Gedichten, Weisheiten, Märchen und Geschichten in bunter Abwechslung. Ein Lesebuch für Sucher.

Wie sollte eine Frau auch ihre tausende Jahre lange Sklavenrolle in wenigen Jahrzehnten auflösen können, frag dich das mal. Was soll ich sagen? Etwa, dass die Geschichte solcher Abhängigkeit, diesem Rainer die Königskrone eines allwissenden Guru aufzusetzen, nichts war und dass wir Frauen Egoisten, nein Narzisten waren, die hinter dieser devoten Attitüde immerhin nach wie vor davon träumten, selbst ein vollständiger Mensch zu werden und voller Licht und Power to the People?

Allerdings stellte sich schnell heraus: Hinter dieser anspruchsvollen Ambition wünschte sich immer noch jede von uns Frauen, gut verborgen im Hinterstübchen, von Rainer klassisch geliebt zu werden. Unausrottbar als Einzige! Und die andere Frau wurde heimlich, besser noch unbewusst, weiter gehasst. Denn um die uralten Eva-Gefühle von Liebes-Macht durch Besitz ging es zu unser aller tiefstem Entsetzen und gleichzeitig irgendwann hoffentlich endlichem Gott-sei-Dank bei Rainer nun wirklich nicht. Ganz und gar nicht!
We’ll never stop living this way! Achtung: doppeldeutig.

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