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Christa Ritter's Blog

Eine freiheits-verrückte Frau

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Gestern ausgelesen: Franziska zu Reventlow, eine Biografie von Kerstin Decker (Berlin-Verlag). Ein Buch über eine freiheits-verrückte Gräfin, die vor hundert Jahren, auch einer Aufbruchszeit, jede Adels-Privilegien ablehnte, damit die Eltern entsetzte, vor allem die Mutter, letztlich aber auch ihre Geschwister. Der „Zarathustra“ von Nietzsche war dann ihre Offenbarung: „Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen“, so Reventlow „und alles andere, der Alltag, das Alltagsleben und -empfinden schrumpfte in eine öde, farblose Masse zusammen, verlor sein Dasein – nur das wahre, heilige, große Leben leuchtete, lachte und tanzte“.

Fanny entdeckt Schritt um Schritt ein Niemandsland, das es damals für Frauen, vor allem so privilegierte, nicht gibt. Die Freiheit hinter dem Status, ihr radikal selbst designtes Leben: keine Kompromisse, ständig ohne Geld, keine Sicherung, nirgends. Männer hier und da, viele. Ein Tanz auf dem Vulkan. Diese unerhörte Freiheit – für mich, innerhalb unseres Sozialsystems und in einer schwierigen Nach-68er-Selbstermächtigungszeit, selbst dank Hilfe des Internets immer noch fast unvorstellbar – wird zu ihrem Kapital: Sie trifft in ihrem Wahnmoching (München-Schwabing) die wichtigsten Männer des wilden Geistes jener Jahre eines Aufbruchs. Klages, Rainer Maria Rilke, die „Kosmiker“ Karl Wolfkehl und Stefan George, Mühsam, Gross, auch den Jules aus „Jules und Jim“ Franz Hessel. Die grenzenlose Neu-Heidin befeuert deren Geist und vice versa. Kurze Zeit eine Kommune zu Dritt, auch den Monte Verita hat sie besichtigt. Nur die ersten Frauenbewegten mag sie nicht.

Das Schreiben entdeckt Fanny eigentlich nur aus Not: Um wieder ein paar Groschen für die nächsten Wochen zu verdienen. Also gerät nichts von ihr wirklich zu bürgerlicher Kunst, nicht ihre Essays und Romane, nicht ihre Roman-Übersetzungen aus dem Französischen. Stattdessen segelt sie kreativ im Hier und Jetzt durch Räusche, Zweifel, Sorgen und Depressionen. Immer wieder Umzüge, weil die Miete nicht bezahlt wurde, die spärlichen Möbel wieder im Pfandhaus landen. Die häufig nicht gerade wohlhabenden Männer, die um sie schwirren, die Verehrer treiben manchmal irgendwie Geld für sie auf. Sie findet Gönner. Dennoch ein ständiges Leben nah am Abgrund: Und erst daher frei? Jedenfalls liebt sie auch den Sex als Rausch, ist „erotisch“. Eine zeitlang sogar in einem Edel-Bordell und das macht ihr sogar Spaß. Abtreibung, eine Zwillingstöchter-Geburtspanne, eine Fehlgeburt. Nur ein Sohn bleibt am Leben, wird ihr Ein und Alles. Dieses Mutterglück darf kein Mann stören, sie übertreibt geradezu besitzergreifend. Diese Liebe wird zu ihrer einzigen inneren Sicherheit. Diese Einmalige ist auch Malerin, in ihren Essays und zwei Romanen eine teilnehmende, amüsierte Beobachterin der privaten Kriegereien, und will eine Schriftstellerin, so etwas „Patriarchales“ doch nie sein: Das eigene, ganz persönliche Leben ständig neu erfinden, keine Anpassung, immer nur aus sich selbst heraus weiter, das ist ihr ungewöhnliches Lebenswerk. Dabei wird sie oft krank, immer ohne jede Krankenversicherung, stirbt bereits in ihren Vierzigern nach einem Fahrradunfall an Herzversagen.

Ihre Kindheit und Jugend gingen mir nahe. Ähnlichkeiten, bei mir, ohne Adel: Diese autoritäre Nachkriegs-BRD, Wirtschaftswundermief, dieses Gefängnis musste auch ich verlassen. Die spätere Fanny empfand ich durchaus ambivalent. Ist meine Grenzgängerei hundert Jahre später lustiger, weil virtueller?n Liegt es daran? Andererseits: Ihre radikale Besessenheit zur Freiheit berührt mich. Wunderbar! Statt einer Sicherheit, alles und gnadenlos immer wieder Selbsterfindung. Eben doch manches wie bei uns Frauen seit 68 bis heute. Und doch auch wieder nicht. Manchmal dachte ich: Wie kann man so einsam radikal dennoch so weit gehen? Und das in jener Zeit! Fanny würde mich vielleicht spöttisch ansehen, um mich dann großzügig ins damals so beliebte Café Leopold auf der Brienner Straße zu einem tollen Essen einzuladen. Bezahlen würde natürlich sie, nämlich mit den Kröten, die ich ihr zuvor für die Miete geschenkt hatte. Never mind!

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