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Christa Ritter's Blog

4. September 2020
von Christa Ritter
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Es gibt nur toxische Männer?

Heute hat mich wieder die Empörung einer Frau erreicht: Du hängst immer am Langhans. Es gibt auch Männer, die sich ähnlich beschweren. Besonders solche, die an ihren Frauen hängen. In feministisch aufgemischten Zeiten dürfen Männer Süßholzraspeln, aber Frauen…oh Gott. Aber tatsächlich: Hatte ich schon mal, frauenbewegt, und bin in dieser Opferrolle depressiv geworden. Und feindselig. Seit 40 Jahren nun der Versuch einer Kehrtwende: Ein Mann an meiner/unserer Seite, der ins Innere geht. Mit Hilfe eines Meisters. Frauen neben ihm müssen anders sein. Die Frauen und Langhans: Wir stärken uns gegenseitig. Auch ich will in dieses Innere. Als einzigen Ausweg aus meiner Eva-Opferrolle, meiner Fixierung auf das Körperliche. Eben: diesem westlichen Dilemma als Hintergrund unserer Kriege gegen alles und jeden. Faschismus, Sexismus, Antisemitismus usw.

Rainer und Christa (me)

Unsere Gefährtenschaft ist nicht bequem, meint aber ein sich Begleiten auf diesem Weg ins eigene Unbekannte. Langhans denkt gerne nach, schaut aus autistischer Perspektive, häufig eher von Innen, was mir als Extravertierte sehr schwerfällt, ermutigt und regt an. Oft ist er für mich in seiner Entschiedenheit unerträglich, manchmal verfluche ich ihn. Aber das geht mir auch mit anderen Menschen so, die mir zu nahekommen, mich infrage stellen. Bis ich merke: Ich könnte lernen, statt wieder nur gepempert zu werden. In der Summe: Ich bin tatsächlich froh, jemanden wie ihn gefunden zu haben. Einen Mann, der sich sucht, dafür ins Innere unterwegs ist, der eine Frau auch als Suchende achtet, sie (oft leider) darin also ernst nimmt und ihr nie den Hintern küsst. Anstrengend, eine Herausforderung, zum Wachsen superwichtig. Von der sogenannten Liebe und Bestätigung lebende Männer kenne ich zuhauf. Daran krankt unser auslaufendes Patriarchat, dieser toxische Materialismus: muttifixiert, Körper, Sex. Okay, es ist schwer, sich von diesen Glücksversprechen zu verabschieden, extrem mühsam. Tu mich selbst damit schwer, immer noch. Trotzdem: Du hast keine Chance aber nutze sie!

4. September 2020
von Christa Ritter
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Rainer wird 80

Foto-Serie für STERN und SPIEGEL mit Fotograf Simon Lohmeyer

19. Juni 2020. Zum Geburtstag von einem Menschen, der mit 80 sagt, es ginge ihm immer besser und

er fühle sich immer jünger haben wir eine Streaming Party gefeiert. Ich fand, seine Freude,

vielleicht so etwas wie Liebe, war für alle spürbar, die mitmachten.

4. September 2020
von Christa Ritter
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Mut ist gefragt

Lese gerade in meiner Website http://merah.de/styx-ebook/ zu meinem EBook „STYX – die Reise beginnt“ diesen kurzen Abschnitt:
Ich kenne nur wenige Frauen, die sich trauen, wirklich ins Unbekannte ihrer tiefen Lieblosigkeit hinein zu schauen, ihr Inneres mit all dem Hässlichen zu erforschen und es ins Licht zu holen, murmelt Jutta. Ich schweige. Bei mir ist es die Gier nach Aufmerksamkeit, die mich nicht loslässt Jede leidet auf ihre Weise: Nicht genug Zuneigung, nirgends Resonanz. Alte Verlassensängste melden sich als Attacken der Boshaftigkeit: Eh du es merkst, rasen sie wieder in dir, du stürzt mitten ins schwarze Loch. Jede will als Einzige konditionslos wahrgenommen werden. Stillstand, hässlich, nicht schön.

seit über 40 Jahren eine Gemeinschaft Einzelner: Heute 2020 drei Frauen und ein Mann.

11. Mai 2020
von Christa Ritter
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Die Reise des Schmetterlings

Friseure in Quarantäne, meine Haare zu lang. Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich selbst mit der Schere ritsch-ratsch endlich aktiv wurde. Eine selbst designte Frisur entstand, mit der ich mich irgendwie bei mir fühle. Nun denke ich nach: Nur ein kleiner Akt gegen meine Vaterprägung, aber doch ein Mini-Schritt von Selbstbestimmung? Noch ist mir eher selten bewusst, was aus mir selbst, meinem tiefsten Kern, meinem authentisch Inneren heraus getan/gedacht/bestimmt wird. Dass ich wenigstens einen Millimeter lang nicht dem normalen, genormten Programm folge, dem Patriarchat, mich stattdessen selbst überrasche. Ein ganz besonderes Gefühl seltener Intimität mit mir selbst. Vor langer Zeit las ich einmal über die Künstlerin Louise Bourgeois, dass sie erst in ziemlich hohem Alter so weit war, sich in ihren Objekten urgrundmäßig selbst zu erfinden. Erlösung vom Vater, nannte sie das. Das hat mich berührt: War ich nicht auch auf diesem Weg?
Weißt du überhaupt, was mit dir los ist, wer eigentlich durch dich die ganze Zeit spricht? Wer bist du? So ähnlich. Bisher sehe ich kaum Frauen, die schon authentisch für sich auftreten. Mit eigener Stimme. Es ist die patriarchale Matrix, aus der sie erfolgreich sind: Wissenschaftlerinnen, Ehefrauen, Moderatorinnen, selbst noch die jungen Influenzerinnen sind erfolgreich mit Hilfe des alten weißen Mannes. Denn sie sind nach wie vor Partnerinnen des Patriarchats, das durch das Virus gerade gegen die Wand zu fahren scheint. Einem toxischen System, das Eva mit Adam verabredete und das die Frau bis Ende des 19. Jahrhunderts zu ihrem eigenen Glück gerne mittrug. In seinem Schatten ging es ihr so gut, dass sie den Vertrag einhielt. Das änderte sich, wie wir wissen, mit der ersten Frauenbewegung. There’s a crack in everything, that’s where the light comes in (Leonard Cohen). Frauen wollten von damals an auch auf die Reise gehen: Sich sehr vorsichtig verbessern, vielleicht sogar die Welt, irgendwann Mensch werden. Eine lange Reise der ständigen Evolution für beide.
Seitdem immer wieder kleine Backlashs, scheinbar, dann wieder Schübe. 68 war ein wesentlicher, rätselhaft und verschwommen, auch für mich. Im frauenbewegten Backlash versank ich opfermäßig. Deshalb dann dank meiner versteckten Verzweiflung der entschiedene, weil bewusste Schub: Harem mit den Frauen und Rainer. Raus aus dem Opfer, meiner tief sitzenden Verneinung, etwas Negativem: Ausdrückliche Kündigung der patriarchalen Matrix, von genormter Ehe und Sex-Deals, landläufige Karriere in eine Art Selbsteroberung. Irgendwie ein tolles wie beängstigendes Gefühl von: Freier Flug ins Nichts! Meine zwanghafte Vaterprägung als Verneinung würde ich aufdröseln, auch die der Mutter. Seitdem eine unglaubliche Reise, zwischen Zweifel und Momenten der Euphorie: Kleinstschritte in dieses Unbekannte, begleitet von Gejammer und Ungeduld. Und doch: Irgendwie ist diese Reise ins Unbekannte zwar mühsam, doch irgendwie ziemlich großartig! Siehe mein eigener Haarschnitt. Selbst erfunden, gefühlt, aus tieferem Grund. Dann heute wieder Downfall: Meine nur scheinbar unbezwingbare patriarchale (von Mutter und Vater) Sperre kommt mir ätzend in die Wege: Ich krieg meinen YouTube-Account der über 100 gesammelten Videos nicht hin. Obwohl bestens angeleitet. Widerstand, Angst vor dem Neuen, Angst vor Unfähigkeit und schon bin ich auch unfähig. Zurück zur unmündigen Frau. Scheiße. Wie ihr von euch vermutlich kennt: Ich taumele im Zwiespalt. Und das ist gut so. Denn die Reise geht ja weiter, noch im eher Verborgenen, vermutlich ähnlich wie bei Louise Bourgeois.
Frauen sind bisher „sprachlos“, kennen sich nur als Schatten des Mannes. Liebt er mich? Grauenhaft? Nicht ganz: Denn jede ist auf ihre Weise „irritiert“ und fängt irgendwann an. Aber Feminismus ist nur eine Vorstufe, so meine Erfahrung. Es folgt das Wesentliche: Das Privileg „Weib“/“Mutter“ usw. aufzugeben, das dunkle Weibliche zu konfrontieren. Aus der Frauen-Identität einer Eva zu „sterben“. Noch weiß ich wenig davon, aus welcher Freiheit ich leben könnte. Als Frau ein geistiger Mensch werden? Klingt verrückt und ist es irgendwie auch. Doch unbewusst haben längst alle den Vertrag des Patriarchats gekündigt? Corona könnte diese Reise mit einem kräftigen Schub weiter vorantreiben.

11. Mai 2020
von Christa Ritter
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Die Quarantäne macht uns nackt

Kleiner Bericht aus der Quarantäne. Alles anders? Ein Freund (35) verdichtet sein Gaming, macht Home-Office und widmet sich ausführlich seiner neuen Freundin. „Sie ist sehr nett“, sagt er, „mir geht’s gut“. Ein Freund (62) ist auch im Home-Office. Das findet aber seit 6 Wochen nicht mitten am Glockenbach, seiner Stadtwohnung statt, sondern im Haus am See. Mit Studenten-Söhnen und Freundin. Viel gut kochen, also essen und noch mehr trinken (Alkohol). „Ich werde eher dicker, aber ich genieße die Ruhe.“ Nicht zu vergessen: jeden Morgen joggen, auch einen neuen Wirlpool einarbeiten. Auch mein Autisten-Freund (58) hielt es in München nicht aus und floh in seine größere Wohnung im Schwarzwald. Von der Terrasse aus mit Aussicht, tatsächlich, in Bäume. Er hat nach wie vor Mühe, sich zu entspannen. Beschäftigung: Schlafen, Fahrradfahren durch die Hügellandschaft. „Bin immer noch ständig unter Druck. Erbkram von meiner Mutter abarbeiten.“
Und die Frauen in meiner Nähe? Eine (70) ist rigoros. Mit Mundschutz nur zum Einkaufen und im Park unterwegs. Telefonieren, allein Filme schauen. „Meine Katze dreht auch bald durch,“ berichtet sie, halbwegs fröhlich. Eigentlich lebe sie ja schon lange zurückgezogen. Eine andere Freundin (53) mit Ehemann ist sonst eher rührig, nun aber völlig abgetaucht. Höchstens Emojis erreichen mich. Sie lebt! Eine jüngere Freundin (37) mit Hund floh schon vor Wochen zu Mutti und Papi an die Mosel. Home-Office von dort aus. Sie räumt auch noch das Elternhaus auf. „Erstaunlich, was ich hier alles entdecke. Die Macken vererben sich.“ Innenschau im Familien-Wahnsinn.
Alle „erfahren“ noch, brauchen Zeit, bisher kaum was verdaut.
Und ich? Schon in der ersten Woche spürte ich deutlich, was mich vorher verspannte. Trotz 40 Jahre „Quarantäne“, also ähnlich wie jetzt zu leben, bin ich aus meinem Zwanghaften noch nicht raus. In mir steckt: Ich muss heute dies, morgen erwartet mich das, du bist nicht gut genug, die andere hat mehr. Und so weiter, das Ego, dieser Hund. Zu wenig meditiert? Deutlich wurde mir dieses Elend, weil ich per Corona, sozusagen im Kollektiv, doch plötzlich davon etwas freier wurde. Eine Pandemie als Meditation der Welt? Hatten mich leere Straßen, verblasster Lärm, frischere Luft in eine seltene Entspannung versetzt, die ich also sonst noch nicht eroberte? Höchstens mal in seltenen Ausnahmen, in den Bergen, am Meer? Leider könnte es damit viel zu schnell, vor wirklichem Be-Greifen vorbei sein. Heute, schon sechs Wochen später, donnern über meine Kreuzung wieder stinkende Autos, sind die zwitschernden Vögel kaum noch zu hören, wird die Luft nur noch durch einen kurzen Regen wieder klar. Zurück in den Wahnsinn?
Aus meiner Quarantäne ein kleiner Höhepunkt. Ich (77) hatte einen heftigen Fight mit einer Freundin (70), die ich schon sehr lange kenne. Eigentlich nichts wirklich Neues: Zumutungen halten unsere Freundschaft offen und spannend. Doch wir hatten uns zuletzt vielleicht einseitig eingerichtet. Harmonie-Getue unter Frauen. Nun aber attackierte sie/ich (sich/mich?) aus Verzweiflung. Ihre Wut: Warum hatte sie in ihrem Leben, in dieser hektischen, patriarchal-aggressiv gesteuerten Welt nie den Erfolg, ein kapitales Standing, um heute gelassen auf die jungen Frauen zu schauen, die inzwischen, von der Männerwelt gefeatured, überall in den Medien zu sehen sind? „Ich habe mein Leben vergeigt!“ schrie sie. Ich schrie mit Volldampf zurück. Weil ich diese Stimme nur zu gut von mir kenne: Das Leben vorbei, alles Scheiße gewesen, diese Jahrzehnte des Rückzugs, neu-familiäre Versuche als „verrückte“ Einzelne. Die also (scheinbar!) nicht wirklich rausfinden, aus der Gewalt des Alltags. Adam und Eva forever? „Wir mussten da raus, wollten eigentlich nie rein und jetzt das Erarbeitete bedauern?“ schrie ich zurück, „da wären wir ja verrückt“. Schau dir lieber an, was du stattdessen gemacht hast, flüsterte ich mehr zu mir selbst. Diese falsche Brille des „Normalen“, halt sie nicht fest, wirf sie endlich ab! Oder heute wieder mal ein Stückchen. Aber noch waren wir, war die Freundin nicht aufzuhalten. Die Wut muss raus, sie darf es! „Es ist etwas anderes entstanden, etwas, das sich bisher verborgen hält,“ versuche ich es mit Vernunft. Die Freundin hört nicht auf, hört weiter nur noch Endzeit. Genau, denke ich, hör in ihr dir zu. Denn diese Seite singt auch in mir ständig Endzeit. Obwohl ich doch, nicht unerheblich, ein wenig in der Neuzeit schon gelandet bin. Frauen auf dem Weg. Endlich! Wir bleiben dran und werden sehen. Schönen Sonntag, noch.

11. Mai 2020
von Christa Ritter
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Not back to normal

Wenn mir plötzlich jemand mit Maske ausweicht: nicht komisch, wirkt bedrohlich. Als wären wir alle verfeindet und unser früheres, normales Leben immer nur eine Farce gewesen. So etwa erlebte ich vor 40 Jahren auch meine ersten Schritte mit vier Frauen und einem Mann. Wir zogen uns extrem zurück, waren plötzlich Terroristen in innerer, der eigentlichen Sache und rissen uns die Masken aus gutem Grund vom Gesicht. Was ist hinter meiner Depression eigentlich los? Alles Lüge, woran ich mich bisher festhielt? Als Kind hatte ich mal diese Erwachsenenwelt genauso deutlich als Lügengeschäft gesehen. War lange her. Nun hielt der letztlich misslungene Verrat nicht mehr.
Jetzt scheint es für die ganze Welt eine solche Chance der Neugeburt (oder Rettung?) zu geben. Wir erleben also dank Virus einen ähnlichen Moment des möglichen Wandels. Davor aber steht Hässliches: Gewalt in den Familien, Ausgrenzung der Alten, der Flüchtenden, Enteignung der Ärmeren. Ich entdecke, dass ich trotz langem Rückzug seit damals noch immer in Druck und Spannung hänge, also von Gewalt dominiert bin. Wenig Vertrauen in das Leben. Gestern sprach ich mit Freunden darüber: Welche wahnsinnige Wut besonders in den meisten Frauen steckt. Ja, da bin ich auch. Wutbürgerin. Dass es die Wut auf das eigene mangelnde Bewusstsein ist, kein Opfer zu sein, sondern schon immer die Täterin meines Weges. Im Guten wie aber auch im Bösen. Entsprechend selten dankbar für das, was dabei schon gelungen ist. Entspannung und Nachdenken stehen also weiter an, dringend.
Daher wünsche ich mir noch eine lange Quarantäne. Merkel hat recht: Damit wir klarer sehen lernen, wie sich längst das Neue auftut. Das Internet beschert uns das Virus? Eben: Mehr innen als außen. Das Netz wird mir weiterhelfen, uns. Gerade hörte ich dafür ein schönes Wort: Meditationstool. Werde das ins Smartphone- oder Laptop-Glotzen daher als Reise in dieses Unbekannte, Virtuelle verstehen lernen. Dieses Tool ist jetzt, während der Krise, endlich sehr beliebt geworden. Und die Natur dankt uns: Eine Freundin erzählte gestern, dass ihr im Nymphenburger Park morgens wieder Rehe begegnen. Die schauen auf, lange und äsen ruhig weiter.
Bild könnte enthalten: eine oder mehrere Personen, Ozean, Himmel, im Freien und Wasser

11. Mai 2020
von Christa Ritter
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Die Stille von Quarantäne

In den ersten Quarantäne-Tagen dachte ich: Ist alles nicht wirklich neu, so lebe ich ja schon lange. Zurückgezogen, reduziert, einfach. Dann aber war doch etwas anders. In mir schien sich Spannung aufzulösen, ein Druck. Ich versuchte dem neuen Gefühl nachzuspüren: Es hatte etwas Freies, Leichtes. Als ob ich mich mehr mochte und andere gleich dazu. War etwas von meinem Ego geschmolzen? Diesem Zwanghaften „ich muss dies machen und sowieso gleich morgen und dann so perfekt wie möglich“. Dieses neue „Sein“ fühlt sich an, als würde es bleiben, als würde es sogar weiter zunehmen. Ich bin gespannt und wünsche mir, dass die Quarantäne noch nicht so bald aufgehoben wird. Die Vögel zwitschern wie verrückt, als würden sie die Stadt im Stillstand geradezu genießen. Und die Kinder erst, sie sind ohne Kita oder Kindergarten. Ich höre ihr Lachen, ihr Weinen, was sie einander oder den Eltern zurufen. Kinder sind mir plötzlich sehr nah. Besser als Autos. Die bisherige Welt löst sich tatsächlich auf. Wie das alte Bewusstsein. Wahrscheinlich schon seit einer Weile: Wir sind dabei, freundliche Menschen zu werden?

9. April 2020
von Christa Ritter
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Leaving for Auroville

Auszug aus einem autobiografischen Text über meine erste Indien-Reise (Süden) 1971:

Ein Auto verleiht man keinem Nicht-Inder. Bei diesen Straßen! So sitzen Hans und ich auf der Rückbank eines nicht ganz neuen weißen Mercedes mit Standarte und lassen Madras (heute Chennai) hinter uns. Ein ständig lächelnder Fahrer soll uns 150 km gen Süden nach Puducherry fahren. Sansey hat wie fast alle Taxifahrer vorn auf dem Armaturenteil ein Bild von Guru Nanak kleben. Wird dieser Guru auch mein Beschützer bei dieser rasanten Fahrt? Denn Sansey rast gar nicht unterwürfig in einem Affenzahn durch kleine Dörfer, bremst höchstens in letzter Minute, weicht selten aus, tritt das Gas bis zum Anschlag durch, wo ich in Panik halten und aussteigen würde, umfährt messerscharf weiße, Müll kauende Kühe, die seelenruhig mitten auf der Straße lagern. Um uns herum brüllen die Hupen, rotzen die Auspuffrohre, schaukeln wir durch Schlaglöcher. Alles, was Räder hat, röhrt und schleppt sich zu den großen Landstraßen. In den Kreiseln schießen die Fahrzeuge von allen Seiten heran, es quietscht, sie verquirlen sich. Fußgänger taumeln.

Ich versuche, mich an allen möglichen Griffen festzuhalten, stöhne, vergrabe meinen Kopf im Schoß von Hans. Der lacht. Ich glaube, er hat aufgegeben, wogegen ich nicht glaube, dass ich die nächsten Stunden überlebe. Nie wieder Autofahren in Indien. Manchmal blinzle ich, wage wenigstens ein Auge zu öffnen: Schrotthändler säumen den Weg, Baracken, Krämerläden, uniformierte Schulkinder aus dem Nirgendwo, Greise, geschlachtete Hühner und seitlich brennende Müllhaufen. Jetzt das andere Auge: leuchtend grüne Reisfelder, am Rand der Straße sitzen Händler mit ihren Körben, manchmal in Verschlägen und pressen Zuckerrohrstangen aus, verkaufen Wassermelonen. Vor uns taumelnde Ochsenkarren, darauf Hühner, Reissäcke, Kinder, TV-Geräte. Auf klapprigen Mopeds hängen Pilger, Geschäftsleute, Wanderarbeiter, dazwischen flatternde rot-lila-orange-gelbe-goldene Saris, blitzen betörende Blicke, sitzen plötzlich zwei Kinder. Kaum halten wir, sind wir von denen umringt. Die Kleinen beugen sich ins Innere, starren uns an. Männer und Frauen bleiben stehen, die Menschentraube zieht immer mehr Schaulustige an. Why don’t you feed your wife, why do you let her be so thin? Fragt auch Sansey. Inderinnen müssen rund sein, weiblich, nicht schmal. Erst recht, wenn man in einem Auto fährt.

Weiter durch Staub und Stein: Frauen nehmen im Tümpel zwischen den Feldern vom Sari bedeckt ein Bad, Krähen sitzen zu Hunderten auf den Stromleitungen, die den Himmel durchziehen wie Spinnennetze, darüber die majestätischen Garudas. Auch zerfledderte Geier. Endlich mündet die schmale Straße in einen Urwald, der sich schließlich zu einer weiten Baustelle öffnet. Dort endlich wage ich, tief durchzuatmen und aus dem Sitz zu kriechen. Eine Fata Morgana? Dann das schiefe Schild: Auroville. Hier bauen Menschen aus aller Welt an der Stadt der Zukunft, ein Projekt von Mirra Alfassa, der Mutter, die 1878 in Paris zur Welt kam. Es soll eine spirituelle Stadt werden, die erste der Welt, ein Ort des Himmels auf Erden, wo geistiger Fortschritt vor der Zeitmauer geübt und das gierige Ego abgebaut werden soll. Kann das gut gehen: ein Paradies auf Erden? Nein! Keine weltlichen Vergnügen als Trost für ausbeuterische Maloche, kein egoistischer Konkurrenzkampf, kein Krieg gegen Mensch und Umwelt. Kann es zwischen Steinen und hohen Wänden Gerechtigkeit und Liebe geben? Neeeiiin! Gegen meine Zweifel scheint die Stadt der Zukunft bereits vorsichtig Realität anzunehmen: Überall wird in dieser Ödnis geschaufelt und gehackt. Hier und da fertige Hütten, die Dächer mit Bambus und Palmwedeln gedeckt, auch größere lehmfarbene Häuser mit geschwungenen Giebeln, üppigen Rundungen oder kühnen Winkeln. Dazwischen Dämme, um den Monsunregen in die Felder zu kanalisieren. Mit einfachen Schippen und bloßen Händen, hölzernen Baugerüsten und Erdschüsseln, die von Hand zu Hand, von Kopf zu Kopf gereicht werden, soll hier beispielhaft ein gelebtes Eingangstor in die geistigere, also liebevollere Welt hinter der Zeitmauer entstehen.

Wo ist die Mutter? Ich höre, sie ist in Europa. Wie schade. Unter diesen ernst leuchtenden Menschen mit schwitzenden Körpern suche ich nach dem Gesicht von Annemarie. Sie war vor einem Jahr mit ihrer Tochter in die Zukunft aufgebrochen, weg aus Werbung, Düsseldorf, weg von Stefan, ihrem Freund. Ich fand sie mutig. Hier scheint sie niemand zu kennen. Erschöpft setze ich mich in einen hängenden Schaukelstuhl. Nicht weit von mir kurven vereinzelte Radfahrer, fahren klapprige Motorräder. Hinter mir führen rote Sandwege in den dichten Urwald. Im Organisationsbüro liegen ein paar dünne Prospekte aus, very indish printed. Die Idee zu diesem verrückten ersten Aussteigerprojekt eines Yoga der Arbeit, hatte ein Inder, der Gefährte der Mutter, Sri Aurobindo. Er war Freiheitskämpfer, Philosoph, Literaturwissenschaftler und Dichter und starb 1950. Eine junge Frau aus Holland erklärt mir: Die Stadt der Zukunft für Westler und Asiaten bedeutet, sich nicht nach draußen zu verleben, keine sinnlose Zerstreuung, stattdessen Ora et Labora als Meditation und Arbeit, Leben in basisdemokratischen Prozessen, kein Leistungssystem, also Schulen ohne Noten. Ich schaue sie zweifelnd an. Es ist inzwischen Abend und immer noch 35 Grad.

Wir sitzen mit einigen Bewohnern auf Matten in einer Runde und trinken Chai. Es wird ohne jede Hektik für die nächsten Tage geplant, die Arbeit in ansteckend guter Stimmung eingeteilt und auch Verbesserungen diskutiert. Es sieht aus, als wären die Sixties mit unseren Träumen doch ein wenig in diesem Projekt angekommen. Um uns eine Symphonie von Tiergeräuschen, über dem dunklen Wald ein entflammter Himmel, die Abendluft wie grauer Samt, sehr still. Wollen wir wiederkommen? Hans und ich haben keine Antwort. Morgen früh wird uns Sansay nach Tiruvannamalai zum Sri-Ramana-Ashram fahren. Ob wir es auch noch auf den heiligen Berg Arunachala zu den Höhlen des verstorbenen Yogis Sri Ramana schaffen?

Neben diesen lauten leisen Indern fühle ich mich plötzlich und ganz ohne Vorwarnung so verrutscht wie in meiner Pubertät, grob, lieblos, hölzern, ängstlich und mit nichts wirklich verbunden. Nicht mit dem Himmel, nicht mit der Erde, nicht mit Hans, schon gar nicht mit mir selbst. Ist so viel Nichts meine eigentliche Realität, ist das die Leere? Könnte das Jahr der 68er Ekstase, als ich plötzlich für Momente hinter der Zeitmauer aufwachte, nichts als Täuschung gewesen sein? Und in Wahrheit bin ich noch immer als aufgeblasenes Lieblingskind unterwegs, das nach Erfüllung im Außen hechelnd das großartige Leben fordert, aber keine Ahnung hat, wie es soviel Hochfahrendes angehen soll. Unfähig, dafür selbst etwas zu tun, gar schöpferisch zu sein, statt nach wie vor irgendwo versteckt in meinem Programm die Rettung vom Mann zu erwarten. Ich ahne: Von Liebe und Zärtlichkeit weiß ich nichts. Geschweige denn von Hingabe. Erneut falle ich in mein dunkles Loch, sozusagen in die dunkle Seite des Mondes. Indien?

29. März 2020
von Christa Ritter
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Searching for the unknown MEM

Gerade rief mich über Facetime eine von euch an: Lächle doch mal. In schwierigen Zeiten. Konnte nicht lächeln. Zuvor hatte ich länger zu meditieren versucht, blieb aber in meiner Unruhe hängen. Dass ich diese Welt nie wollte, mich nicht, euch nicht. Habe ich natürlich immer versucht zu verbergen. Fassade, dahinter unsicher, eben ungeliebt, daher gewalttätig, eben kein Selbstbewusstsein. Die tollen Ideen kluger Männer, die unsere Kultur ausmachen, haben mich nicht genügend inspiriert. Ein wenig schon, tiefer nicht. Dazu gibt’s eine Frage, die diese klugen Männer stellten: Was will die Frau? Ein Rätsel bis heute. Auch für mich persönlich. Was will ich? Daran arbeite ich schon lange und weiß die Antwort nicht. Oder nur ein wenig: eher ahnen. Wird sich durch das Virus jetzt die Welt so verändern, dass ich mit ihr, mit mir, mit euch besser drauf bin. Dass wir uns alle mehr annehmen? Und der Antwort auf die Frage näherkommen? Zu diesem Thema plane ich einen YouTube-Kanal. Offene Diskussionen sollen dort stattfinden. Wie könnte der Kanal heißen? Gern Vorschläge, aber ich denke auch weiter nach. Wohin will ich, wie geht der Weg?

29. März 2020
von Christa Ritter
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Alles ist Lüge

Hier noch etwas, das ich auch eben in meiner regionalen AZ las und das in mir wiederhallte. es sind Zeilen aus einem Song von Gabi Gelgado, der gerade mit 61 Jahren verstorben ist (DAF): Alles ist Lüge. Die Wahrheit ist Lüge. Die Lüge ist Freiheit und Gott ist Betrug, wie Filme und Kunst. Alles ist käuflich. Die Wahrheit, die Lüge, der Himmel, die Hölle, das Haus und die Möbel.

Gabi Delgado (DAF) ist gerade mit 61 Jahren gegangen

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