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Christa Ritter's Blog

Summertime and the living is easy

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Mal wieder aus dem Netz auftauchen ist fast schon was Besonderes: Rainer’s 75. Geburtstag, verspätet im realen Leben als Sommergespräch, one month gone. Vier Wochen nach seinem Pressetrubel: Eine schöne Gelegenheit, den ein oder anderen Friend/Follower Auge in Auge als Bodytalk zu erproben, auch alte und neue Gefährten einzuladen, die etwas mehr suchen als das einfach Verfügbare. Weiß ich überhaupt, wer das sein könnte? Aber schließlich klappte alles: ein weicher, warmer Abend für Unabsehbares unter diesem und jener, alt und jung.

die Mohr-Villa

die Mohr-Villa

Der Gewölberaum der Mohr-Villa in München-Freimann, davor eine große Wiese unter riesigen, alten Bäumen. Brigitte, Gisela und ich bauen auf: vielerlei Kerzen, Stühle holen, zwei Buffettische aus dem Lager, Wasser kalt stellen, Räucherstäbchen. Ja, ihr lächelt: Räucherstäbchen. Halten sogar die Mücken fern.

Barbara steht unschlüssig als erste vor der Einfahrt: Sie ist aus Berlin gekommen. Und dann versammeln sich immer mehr, die Schüsseln und Teller mit Vegetarischem in der Hand. Als Improvisation eines Buffets der leichten Genießer. Wir entscheiden uns für eine Runde auf der Wiese. 25 oder 30 Menschen betrachten sich zwischen Neugier, scheuem Interesse und Abwarten. Rainer schlägt das Thema ho’oponopono vor, das schon bei seinem 70. Geburtstag seine Wirkung entfaltete. Andererseits wollten sich die Frauen thematisieren, wendet er ein, dieses von ihnen empfundene Ungleichgewicht zur Sprache bringen. Rainer geht’s mit unserem gemeinsamen Experiment eines anspruchsvolleren Lebens immer besser, sagt er, uns Frauen schlechter, behaupten wir. Sind wir blind oder was ist los? Denn ich schwanke noch immer zwischen Anklage, Zweifeln und (eher seltener) Dankbarkeit. Jammerfrauen, wenig Selbstwahrnehmung, eigentlich ätzend, aber als Übergang vielleicht Not-wendig. Leider ist Jutta, die lautstark Expressive, hier nicht unter uns, weil der Krebs sie nieder drückt. Theresa (25) neben mir (72) flüstert zum widersprüchlichen Selbstblick : Männer reden sich alles schön, Frauen schlecht. Könnte was dran sein. Ach was, wir sind doch längst weiter als bei der Gender-Frage, dringt von links in mein Ohr. Einer der hier Versammelten mailt am nächsten Tag: Ihr Frauen wirkt auf mich bei allen Problemen so positiv, sympathisch und stark, dass meine eigenen Eindrücke in einem gewissen Widerspruch zu der Schilderung Eures empfundenen Unglücks stehen. Oder ich habe da etwas falsch verstanden? Nein, hast du nicht. Möglicherweise.

Maria Imania

Ich erzähl euch also mal die Geschichte der hawaiianischen Schamanen-Therapie, beginnt Rainer. Die Station im Gefängnis, wo die geisteskranken Kriminellen untergebracht waren, war als gefährlich verschrien. Die zuständigen Psychologen wechselten nahezu monatlich. Das Pflegepersonal meldete sich oft krank oder kündigte schlichtweg. Die Angestellten gingen mit dem Rücken zur Wand durch die Station, weil sie fürchteten, von den Patienten angegriffen zu werden. Es war kein angenehmer Ort, um dort zu leben, zu arbeiten oder ihn nur zu besuchen. Der neue Therapeut hatte vereinbart, die Akten der Insassen nur in seinem Büro zu studieren. Er hat also nie einen der Patienten persönlich empfangen.

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Nach einigen Monaten veränderte sich alles. Erste bisher fixierte Patienten durften sich frei bewegen. Andere, die zuvor starke Medikamente einnahmen, konnten sie absetzen. Und diejenigen, für die es nie eine Chance gab, jemals in die Freiheit zurückzukehren, wurden sogar entlassen. Schließlich ging selbst die ganze Belegschaft gern zur Arbeit. Das Krankfeiern und der häufige Stellenwechsel hörten auf. Plötzlich war niemand mehr da, keine verrückten Kriminelle, keine Therapeuten, die Station musste schließen. Was war passiert? Was hatte der Therapeut allein in seinem Kämmerchen getan?

Dieser Mann wusste offenbar, dass äußere Veränderungen nichts bewirken, dass es nur um die eigene innere Veränderung geht: Die einzig mögliche Revolution sei der Revolutionär selbst. So hatte der Therapeut nur an sich selbst gearbeitet: Indem er für sein Leben die vollständige Verantwortung übernahm, für alles, was er tat, aber vor allem für das, was um ihn herum passierte. Er hatte erkannt: Die ganze Welt ist im wahrsten Sinn des Wortes meine eigene Schöpfung. Alles, was du siehst, hörst, schmeckst, berührst oder sonst irgendwie erfährst, musst du verantworten, weil es vor deinen Augen erscheint. Das bedeutet auch, dass der Kapitalismus mit seiner gnadenlosen Gier, jede Finanzkrise, der Klimawandel und jede Leiche der Boatsflüchtlinge, dass sogar alles, was du draußen erfährst oder nicht magst, deine Thematik ist, um dich zu heilen. Im Grunde besteht die Welt nur als deine Projektion des eigenen Inneren. Drei Mantren hatten dem Therapeuten im Kämmerlein zu seiner Heilung verholfen: „Es tut mir leid – in mir“, gefolgt von „Ich verzeihe dir – in mir“, schließlich „Ich liebe dich – in mir.“

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Unser Frauen-Thema war dank dieser wunderbaren Geschichte vom Tisch? Eigentlich auch das von Jutta: der Tod, dieses Sterben lernen? Ich bemerkte noch kurz etwas Kleinlautes zu meinem Opfer-Schwachsinn, Brigitte versuchte, ihre Erfahrungen mit mehr Selbstbewusstsein zu versehen, Rolf bestärkte sie mit einer merkwürdig schrägen Anmache, andere Frauen fragten zaghaft nach, das Jammer-Thema schien sich zu verflüchtigen. Die Geschichte vom Therapeuten, der sich erst selbst heilt, um alle Kranken abzuschaffen, hatte auch uns Frauen die Antwort geliefert: Solange ich an mich als Opfer glaube, werde ich eins sein. Immer wieder. Aber auch: Den Rainer, dem es immer besser geht, habe ich mir erschaffen. Es gilt, meine positive Projektion auf ihn zurückzunehmen. Dann geht es auch mir besser. Mein Leben und seinen langen Weg einer Sucherin wird mich so lange enttäuschen, wie ich mich ent-täusche. Das Gleiche dürfte für Jutta gelten: Nach dieser Heilsgeschichte ist der Krebs Jutta’s Projektion eines Meisters über ihr Leben. Er wird sie vom Körperlichen ent-täuschen. Verrückt!

Langsam löste diese Geschichte die Scheu aller hier in der Runde auf. Die Linden begannen stärker zu duften, so schien mir, das Chaos des Lebens fing an, sich zu entfalten, jeder berichtete von seiner Baustelle auf der ganz persönlichen Lebensleiter.

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Plastiktüten als mögliche Projektion von Schönheit und Erleuchtung, QBismus neben Sternen, die uns angeblich längst in geistige Höhen mitnehmen und sowieso seien wir längst vom Lichtstrahl erfasst und von solcher Liebe einer höheren Instanz gäbe es sowieso kein Entkommen. Wir sollten glücklich sein oder so ähnlich. Männliche Menschen spreizten ihr philosophisches Gefieder, die weiblichen ihr emotionales. Gemeinsame Tänze des Spirits, alle Versammelten häufig bemüht, so schien mir, vom anderen etwas zu verstehen und seine Erfahrung oder Sicht oder auch nur Angelesenes mit etwas Eigenem zu verbinden. Und vor allem: Das Nichtgesagte ganz nebenbei als großes Nichts wirken zu lassen. Jenseits aller Projektion, irgendwie. Rainer platzierte noch einen Hammer: Konsequent zur Geschichte aus dem Gefängnis nannte er Jutta’s Krebs ihren Freund, eine von ihrer Innenseite inszenierte Gnade sogar, etwas, das ihr längst hinüber leuchtet, wenn sie es denn zuließe, in diese unbekannte Schönheit des Geistes. Sagte ich doch: Krebs als Jutta’s Meister. Mein Herz fing an zu klopfen, der Hals verengte sich. Jutta! Dabei sah ich rüber zu Gisela, ihrer Zwillingsschwester. Versuchte sie als Einzige, in diesem Moment etwas Fassung zu wahren? Weil Rainer verrückt geworden ist, wir alle?

Dann wurde es langsam dunkel unter den Bäumen, feucht sogar, fast kühl. Ich musste an den Vater mit seinem Kind denken, der vor dem Erlkönig mit Krohn und Schweif flieht, bis er ihm Leids getan hat und das Kind in seinen Armen tot ist. Ein starkes, mystisches Bild meiner Kindheit. Aber da hatte schon jemand gesagt, wir sollten doch alle unsere Stühle nehmen und unter das Gewölbe wechseln, wo die Kerzen heimelig flackerten. Wenn nicht geredet wird, wird gegessen und getrunken. So war‘s dann auch. Eine Pause für Melone mit Chili, Hefe-Nußzopf, schwarzer Linsensalat, Pasta mit köstlichem Tomatensugo, türkische Teigröllchen mit Gemüsefüllung, Feta-Mango-Erdnuss-Creme, Rote-Beete-Salat mit gerösteten Sesam- und Sonnenblumenkernen und mehr. Alles unaufdringlich, zum Kosten, nicht zum Sattessen. Ach, Babette, die ihren Sinn für die romantische Liebe in zweisamer Verschmelzung retten wollte, hatte ihren Hund mitgebracht, eine größere Rasse. Der spazierte manchmal still durch unsere Mitte, nur vom Kerzenschein erleuchtet. Da waren bereits immer noch nachdenklich gehaltene Widersprüche aufgekommen: Bettina plädierte für Atemübungen, die das Sterben erleichtern könnten, weil sie in ein höheres Bewusstsein führten. Geht nicht, noch zu körperlich, sagt Rainer. Norbert antwortet: Du scheinst den Körper nicht besonders zu lieben? Rainer (ich meine, hinter seiner Brillen ein Aufblitzen zu bemerken): Seh ich so aus? Gute Frage an einen, der in seinem Flatterweiß eher leicht und transparent wirken kann. Doch, es gab auch ein paar Raucher, die immer mal wieder auf den Hof verschwanden. Wissen wir ja: Das mit dem Geist ist eine schwierige Übung, die wohl schwierigste.

Jutta, du hast jetzt den letzten Druck als Chance: ho’oponopono. Als könnte man schließlich die eigene Körperidentität mit diesen hawaiianischen Mantren wegschmelzen und in den großen Geist aufgehen. Lerne zu sterben, um wirklich zu leben, sagt dazu ein indischer Meister. Eine schwierige Übung: Besonders für uns Westler, sagte noch jemand. Yes, you can, würde sicher trotzdem der Therapeut antworten. Gegen ein Uhr war ich zuhause.

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