merah.de

Christa Ritter's Blog

This is the end

| 14 Kommentare

von Jutta Winkelmann

 

Jutta in Varanasi bei den Ghats (Totenverbrennungen)

Jutta in Varanasi bei den Ghats (Totenverbrennungen)

 

Beautiful friend
This is the end
My only friend, the end
Of our elaborate plans, the end
Of everything that stands, the end
No safety or surprise, the end
I’ll never look into your eyes…again

Mein Rückgrat ist zerstört, zwei Wirbel von zwei Tumoren zerfressen. Sie sitzen direkt am Rückennerv. Es sind höllische Schmerzen. Ich rühre mich nicht. Ich kann jederzeit gelähmt sein. Es muss mein Weg zur Erleuchtung werden. Nicht weinen. Ich habe so schreckliche Angst. Ich habe es als Computertomographie. Als ausgeschriebene Diagnose. Es ist wahr. Ich will die Scheiße nicht, ich will sie nicht, ich will nicht sterben, es muss ein schrecklicher Irrtum sein. Die Schmerzen sind so wahnsinnig. Ich bekomme Morphinpflaster. Ich vertrage sie nicht. Ich kotze alles explosionsartig aus. Ich krieche auf allen vieren aufs Klo.

Kotzen, kotzen. Nichts hilft, die höllischen Schmerzen zersägen mein Ich, zerhämmern meine Individualität. Es bleibt nichts von mir übrig. Nichts. Es gibt keine Hilfe. In die Knochen muss Zement. Noch vier Tage zur Operation. Ich bleibe starr im Bett liegen, damit nicht noch mehr passiert und das Rückgrat zusammenbricht. Ich bewege die Zehen. Sind sie schon streif, fühle ich noch was? Ich werde irre vor Angst. Ich fühle alles, die Zehen werden steif, kribbeln, der Rücken zerschmettert, bin ich schon gelähmt? Ist der Tumor auch im Kopf? Es gibt kein Verhandeln mit Gott wie vor 11 Jahren, wo mir die Brust abgeschnitten wurde, kein bitte noch einige Zeit, einige Monate, einige Jahre. Ich war doch gesund, geheilt, die Ärzte haben mich nach Hause geschickt, nichts, Blutwerte super, nix. Ich gehöre zu den Wundern, die es ohne Chemo und Strahl geschafft haben. Dachte ich, dachten die Ärzte. Aber innen wuchert es. Der Arzt informiert mich über die Risiken. Sie sind gigantisch. Ich sage, nein, dass kann ich nicht bei klarem Verstand unterschreiben. „Sie haben keine Wahl“. Neun Stunden Narkose. Ausgelöscht im Schwarzen. Keine Existenz mehr. Gestrichen von der Liste.

Ich wache wieder auf, wieder kotzend, falle zurück ins Nichts. Wache klatschnass geschwitzt auf. Bekomme eine Spritze. Wieder zurück ins Nichts. Bardo. Ich höre irgendwo aus weiter Ferne, es gab Probleme, Zement ausgetreten, mussten um die Tumore herumgehen, großes Hämatom. Werde abgetrocknet. Gehe wieder ins Dunkle. Dann schlagen die Schmerzen zu und treiben mich in einen erbarmungslosen Wachzustand. Es gibt keinen Weg daraus, es ist tiefschwarze Nacht, still im Krankenhaus. Es wird geschlafen oder irgendwo gestorben. Ich sterbe, das wars. So elend. Ich gerate in Panik, ich sinke, kein Licht, keine Erlösung, kein Gott, keine beruhigende innere Stimme. Es ist totenstill und ich sterbe aus Angst, Schmerzen und Aussichtslosigkeit. Keine Erleuchtung, kein Licht am Ende des Tunnels. Alles Quatsch, Scheiße und Selbstbetrug.

Am anderen Tag versuche ich erste Schritte. Nach fünf Tagen nach Hause. Dann in die Schmerzambulanz. Eine Freundin findet einen Professor. Ich kann zum ersten Mal weinen. Er nimmt meine Hand, bleibt an meinem Bett. Liebe.

Es dauert eine Woche, bis die Schmerzen künstlich eingedämmt werden können. Ich vertrage keine Morphine. Ich habe schon in Rom meinem opiumsüchtigen Geliebten die Seidenkissen vollgespuckt. Ich gehöre zur psychedelischen Fraktion. Nicht erdwärts, sondern in den Himmel. Jetzt gehöre ich mir nicht mal mehr selbst. Ich gehöre den Schmerzen. Ich bin sie. Außer ihnen bleibt von mir nichts. In den schwarzen Nächten der Klinik gehöre ich zu den Todgeweihten. Ich gehöre nicht mehr zum Leben. Es wird mein Leben so nicht mehr geben. Aber ich will noch leben. Ich will nicht sterben. Ich möchte überhaupt nicht sterben. Ich will auch keine Angst mehr haben. Dieser Fahrstuhl der Angsthölle bringt mich um.

Die Übelkeit und das Erbrechen wei゚t f・ mich auf einen Gehirntumor hin_, sagt der Stationsarzt ・er mich hinweg zu den anderen Ärzten. Nicht zu mir. Ich möchte noch einen Scan.

Es dauert drei Tage, bis der Termin kommt. Es ist Folter. Nachts rast der Puls und das Herz krampft sich so zusammen, dass ich Panik gequält vermute, ich sterbe nicht an Krebs, sondern an einem Herzinfarkt. Wie machen das die anderen Menschen, die hier in der Klinik liegen? Wie begegnen sie ihrer Sterblichkeit, dem Leiden? Unter Tage, in der Strahlenstation, sehe ich Fälle, dass es mir das Herz umdreht. Einer Frau wuchert der Krebs aus der Stirn, einem jungen Mann zerfrisst das Übel das Gesicht. Alte erbarmungswürdige Gestalten, Lumpen, kaum noch Mensch zu nennen, warten auf eine Gnadenfrist von Gott, auf ein kleines bisschen Weiterleben, egal wie elend. Und ich gehöre zu ihnen. Bin eine von ihnen. Sterblich, während die Welt da draußen vor der Klinik leuchtet und unsterblich ist.

Ich will noch Leben. Drei Wochen Bestrahlungen. Fünfzehn Mal lasse ich mich von dem tödlichen Atem der Drachenmaschine anfauchen. Ich versuche Freundschaft mit ihr zu schließen, streichle manchmal die harte Pritsche, auf der ich während der Behandlung liege. Die drei letzten Behandlungen mache ich stationär. Ich will raus.

Zuhause vorsichtiges Rumliegen und Gehen. Die Freunde meinen, ich muss mein Leben ändern. Ich frage mich, ob ich überhaupt noch eins habe. Manchmal rufe ich Rainer an und sage, ich hab’s vermasselt, in den Sand gesetzt, es ist aus, vorbei, ich werde nicht mehr. Das war’s, alles abgefuckt.

Reha schaffe ich gut. Jeden Tag laufen, laufen, laufen. Ich soll Antihormone nehmen. Und so ein Mittel, das die Knochen härtet und den Krebs aus den Knochen treiben soll. Ich vertrage es nicht, von den Antihormonen gehen mir die Haare rapide aus, werde ich unkonzentriert und fahre in ein parkendes Auto. Die Bisphosphonate machen mir nach der vierten Anwendung teuflische Schmerzen. Es geht von vorne los. Der Sommer vergeht mit Schmerzen. Sie werden nicht mehr ganz weggehen, sagt der Arzt. Gut, sie folgen mir, wie ein treues Hündchen, aber das ist das wenigste. Was bleibt, ist die lauernde Angst. Verdammt, ich stecke in diesem Körper, bin, existiere und muss sterben, manchmal kommt mir das alles so irre vor, so unreal, dass ich mich in den Arm kneife. Endlich aufwachen! Aber wohin. Vom Traum im Traum des Träumers. Ich weiß eigentlich nicht mehr, wer ich bin und was ich hier machen kann. Was ist mein neues Leben, das ja bedroht bleibt? Werde ich eins haben?

Als ich aus der Reha komme, erfahre ich, dass meine älteste Freundin an genau der gleichen Sache gestorben ist. Ihr Bruder schildert ihren Todeskampf. Sie wollte leben, wollte auch nicht sterben, aber musste. Ich will es nicht. Überhaupt niemals. Es ist für mich nicht zu bewältigen. Eigentlich brauche ich jemanden, der mir das aus dem Kopf nehmen kann. Eigentlich erwarte ich von meinem Arzt (den ich liebe), dass er mich an die Hand nimmt und sagt, war alles ein Irrtum, Fehldiagnose, alles gut, alles bestens, haben uns geirrt, tut mir leid, du musst nicht sterben, habe mit Gott geredet, er sagt, es fällt aus, du besteigst nur eine Kutsche, alle können mitkommen und ihr fahrt in leuchtende Gefilde und wenn du möchtest, kannst du auch jederzeit zurück und das Altern fällt sowieso aus.

Brigitte und Christa spielen stundenlang Tischtennis. Sterben ist kein Thema. Sie sind noch auf der Seite des Lebens und reagieren genervt. Gespräche mit Rainer: „Hast du auch Angst?“ Er bejaht. Er macht es langsamer, mit Hilfe seines Meisters. Nicht so gewaltsam wie ich. Ich habe das Gefühl, ich muss vorausgehen und klammere mich doch vor Angst an jedes Stuhlbein.

Der Arzt sagt, ich habe ein frühkindliches Trauma, weil ich das Antihormon nicht nehmen will. Nein, ich will es nicht nehmen. Die Tablette wird für mich zur Zeitbombe. Sie macht mir mehr Angst als alles andere. Sie steht (für mich) für Gehirntod – das Hirn braucht Hormone, für nie wieder gesund werden, sie heilt nicht, sondern unterdrückt nur, für jahrelang regelmäßiges Einnehmen, mit dem Wissen ihrer auch möglich verheerenden Folgen. Im Internet lese ich viel darüber. Häufig folgt nach einigen Jahren ein Gehirntumor, der nicht behandelt werden kann. Krebs kann sowieso nicht behandelt werden. Eigentlich möchte ich nur schreien, toben und um mich schlagen!!! Ich möchte brüllen! Aber ich soll jetzt lieben lernen, sagen die Freunde.

Im Dezember kommen Rainer und Severin zu mir. Severin möchte einen Film über meine spirituelle Suche in Indien drehen. Arbeitshypothetisch möchte ich zu Gott finden und alle seinen Inkarnationen. Ich brauche eine. Voraussetzung ist, dass Rainer mich begleitet und erstaunlicher Weise sagt er gleich zu. Ich glaube gar nichts mehr. Ich glaube, dass ist alles Selbstbetrug aus Angst vor dem Tod. Jede Religion ist ein Amoklauf aus Angst vor der endgültigen Auslöschung. Ich bin verzweifelt, denn ich komme aus dem Spiel nicht heraus: Ich stecke nun mal in der Existenz und wir alle werden doch zum Schafott geschliffen. Nun bin ich dran. Ich will nicht. Sterben lernen hat Rainer gesagt. Kann man das? Alles Bewusstsein hängt doch am Körper. Schon in der Narkose ist gar nichts mehr. Rein nichts und wenn ich da gestorben wäre, hätte ich es nicht einmal gemerkt und es gäbe mich nicht mehr und ich wüsste es nicht einmal.

Im Januar soll die Indienfahrt beginnen. Einige Freunde raten ab. Bist du verrückt? Eine krebskranke Frau gehört nicht dahin. Unverantwortlich. Aber ich will. Will wenigstens arbeitshypothetisch da die Erlösung suchen. Möchte lebendig werden. Das Leben ruft. Dann reitet mich der Teufel. Ich setze mich bei der Produktion dafür ein, dass Brigitte mitkommen soll, sie soll mich unterstützen, aufs Essen achten und darauf, dass ich die alternative Medizin tatsächlich einnehme. Sie möchte. Einige Tage später tut mir Christa leid, dass sie zurückbleiben muss, gerade sie hat mich doch auch früher schon mal unterstützt, ich bin ihr dankbar, aber kann ich denn jetzt Brigitte zugunsten von Christa ausladen? Dann ist sie enttäuscht. Das geht nicht. Ich kratze Geld zusammen, Gisela gibt etwas, spreche mit der Produktion. Christa kann schließlich auch mit. Das bereue ich auf der Reise immer wieder bitter. Es sollte meine Reise sein. Das traue ich mich kaum auszusprechen. Den Frauen passt nichts, sie wollen in den Süden, werden aus Protest krank, es geht dann nur noch um einen verknacksten Fuß, Hexenschuss und um Husten. Christa tut dann das Knie weh, als wir nur noch im Norden bleiben, legt sie mit Fieber nach. Ich spreche mit Severin, sie muss aus den kalten Aschrams raus. Wir bringen sie ins nahe gelegene Bergstädtchen Mussoorie in ein komfortables Hotel, in frische Himalaya-Bergluft und schneebedeckte Berge. Sie ist wütend und hasst mich, sie will in den Süden, auch vor die Kamera, auch Aufmerksamkeit, will in die Sonne und sowieso alles anders. Ich weiß, dass ich das bisschen mehr Film- und Rainer-Aufmerksamkeit, was ich gerade bekomme, teuer zu bezahlen habe. Innerlich rase ich. Dann bricht es heraus. Im Blog komme ich kaum vor, nicht der Anlass der Reise, nicht, dass ich ihnen die Reise geschenkt habe, undankbare narzisstisch gestörte Weiber. Und meine Krebskrankheit verkommt zur Bagatelle, kommt nicht mehr vor, wird zur Farce. Die Frauen besuchen immer wieder Ärzte, Brigittes Freund telefoniert aus Deutschland ganz Indien zusammen, damit sie ja gut und professionell behandelt werden kann. Ich sehe nur noch ihren ständig hochgereckten Fuß, alles dreht sich um ihren Fuß und meine, ja eigentlich doch meine! Reise und mein Film wird unter ihren Füssen und Christas Protestleiden gecancelt. Mich beutelt Wut, Eifersucht und die nagende Reue. Ich werde innerlich immer kleinlicher und härter, zähle mir auf, was das alles gekostet hat, sie mitzunehmen! Dadurch wird doch der kleine Etat noch kleiner, Reisen für Rainer und mich entfallen, schlechte Hotels, Unbeweglichkeit, alle Kosten verdoppeln sich, ich habe gar nichts davon, dass sie mitgekommen sind, gar nichts, die geübten Egoisten! Ich habe einen Zwilling und musste immer teilen, das will ich auch nicht mehr, ich will nicht sterben, auch mal nicht teilen, nicht immer auf die Frauen, denen nichts passt, nicht der Norden, die Unterkünfte, das indische Essen, der Krach, die Suche, Rücksicht nehmen. Ich will total egoistisch sein. Nichts passt ihnen, und sie machen alles um die Reise (meine!!) zu stoppen und zu verhindern. Ich sehe ich ihnen (zeitenweise) erbarmungslose Hyänen. Bin ich das alles selbst? Ich gönne ihnen diese Reise nicht! Ich kann es nicht fassen wie viel Selbstmitleid, Verzweiflung und Wut und der gesamte, gestopfte Inhalt der Dose der Pandora in mir stecken. Die zersetzenden Gedanken geben keine Ruhe. Rainer, das kann ich nicht mehr unter den Tisch kehren, schafft es immer wieder zu vermitteln und einen Weg aus dem Dilemma zu finden, es gibt noch eine andere Seite in euch, das seid ihr nicht ganz. Er kennt unsere Tänze nur zu gut und ist wenig beeindruckt davon. Ich kann und darf nicht mehr in diesen alten Grabenkämpfen stecken bleiben. Das ist meine Chance! Immer öfter gehe ich auf die Beiden zu, aber dann ärgert es mich nach einer Weile, da ich das Gefühl habe, dass ich es immer bin, die das tut, dass die Beiden bedient werden wollen und schon wieder stecke ich im Elend. Es ist zum Verrücktwerden. Ich wollte doch eine heilende, eine heilige Reise machen, und nun herrscht wieder Krieg, egal wo ich bin, am Fuße des Himalayas oder in irgendeinem Aschram oder Zuhause – wie eh und je. Aber ist es wirklich wie eh und je? Sind tatsächlich sie es, die da Schlechtes für mich wollen? Ich sehe immer deutlicher, das steckt in mir, das kleine, enttäuschte, wütende, zornige Kind. Ich kann es nun sehen, es tobt, ein altes Muster, das nicht gehen will.

Ich komme schneller durch, weiß schneller, dass ich es bin, und nicht die anderen und dass ich nur etwas bei mir ändern kann. Immer wieder gute gemeinsame Erfahrungen, die den Kampf rechtfertigen, auch erste kleine Ansätze von Liebe zwischen uns. Es ist schwer, das Rauchen aufzugeben und es ist unendlich schwer, sich zu verändern. Auch eine Krankheit kann eine bescheuerte Identifikation sein und eine Abwehr der Liebe. Wir werden jetzt unsentimentaler, härter mit uns, aber auch näher. Manchmal denke ich verwundert, es ist gut, dass sie diese Reise mitmachen.

Rainer schlägt vor, dass wir uns trennen und wir stimmen zu. Aber es kommt dann vorerst nur zu einem getrennten Flug. Das Ziel ist das gleiche: Kerala, Trivandrum, Kovalam Beach. Von Kochi aus fahren Rainer, Severin, Balwinder, Martial, der Tonmann und ich sechs elende Stunden mit dem Bummelzug durch die Backwater von Kerala, durch einen endlosen Palmenurwald, fix und fertig von der langen Rückreise aus Mussoorie mit der lächerlichen Unterbrechung von zwei Stunden Schlaf. Brigitte und Christa waren klüger und sind gleich bis an unser Ziel geflogen. Ich dagegen wollte noch mehr von dem Land sehen und hänge abgerissen vor Erschöpfung, nagenden negativen Gefühlen und schlaflosem Selbstüberdruss, einer gebrochenen Rippe, die unter uns wieder keine Rolle spielen darf, außer meine Schmerzen zu vergrößern, in dem verdammten Zug herum und bekomme kein Auge zu.

Kovalams Hässlichkeit springt mich an wie ein wütender Hund. Ein kleiner öldreckschwarzer Strand, die obligatorischen indischen Wahnsinnselektoleitungen davor, eine schäbige Promenade mit noch schäbigeren Lädchen, die alle denselben billigen Mist verkaufen, den es auf der ganzen Welt gibt. Eine maßlose feuchte, luftabdrückende Hitze mit spießigen Russen-, Australien- und Europatouristen, ein penetranter Ölgestank und kranke Hunde überall, addieren sich zu einem Inferno, das nur meine Vernichtung im Sinn hat. Auf der harten Pritsche im Zimmer von Balwinder und Severin breche ich förmlich zusammen. Ich heule Rainer an, jetzt habt ihrs geschafft, das ist also das Traumziel der Frauen, der gelobte Süden, der phantastische Strand, der tolle Platz, weshalb sie von Anfang an alles boykottiert haben. Ich bin erschöpft, geschlagen, nun könnt ihr zufrieden sein. This is the end, my friend. Meine Schmerzen im Rücken sind fast unerträglich, die Frauen haben mich klein gekriegt. In diesem elenden Touristenkaff werde ich sterben, dafür habe ich alles Risiko auf mich genommen, My only friend, the end.

Aber kurz darauf verstehen wir uns schon wieder gut. Bin ich durch das Angstprogramm durch, ja und vielleicht finde ich hier sogar Erlösung. Im elendsten, runtergerackerten, unspirituellsten, hässlichsten Kaff der Welt. Am Morgen versuche ich, mir alles schön zu gucken. Ich gehe in das graue, nach Öl stinkende Wasser. Bekomme von den hohen Wellen ein Schlag ins Genick geklatscht, macht nix, bisschen mehr Schmerzen, eine steife Schulter. Auch gut. Mein Körper ist längst ein durchgeknalltes, eigenständiges Ereignis auf seinen Wegen und ich kann oft nur noch fassungslos oder manchmal beunruhigt diesem seltsamen Geschehen wie aus der Ferne zusehen.

Zwei Tage Frieden zwischen uns, dann knallt es wieder, aber der Weg zurück zur anderen Seite geht schneller und dieses Licht lassen wir inzwischen doch ein wenig rascher zu. Langsam finde ich Kovalam schön. Der Dreck stört mich nicht. Ich liebe Lily, die Obstverkäuferin auf der Promenade, die uns aus herrlichem, mitgebrachten Obst riesige Teller zusammenstellt. Gerade mal für lumpige 100 Rupies. Sie liebt mich auch und für sie lasse ich mich von der anderen Obstfrau zehn Meter weiter beschimpfen, weil sie näher an meinem Hotel hockt und meint, ich müsste deshalb bei ihr kaufen. Ich fürchte sie etwas, aber das nehme ich in Kauf, um bei der freundlichen Lily meinen Obstsalat zu essen.

Dann gibt es wieder Krieg und meine wütenden, eifersüchtigen und düsteren Gedanken jagen mich unerbittlich. Da sind noch viele Rechnungen offen! Ich schaffe es am Ende, sogar während der zauberhaften, stillen Backwater-Fahrt noch einen Streit mit Rainer anzuzetteln. Auf dem Terrassendeck vom Restaurantboot schwillt mir kurz vor der Rückfahrt der Hals. Jetzt ist es an der Zeit, Rainer noch einmal bitter vorzuwerfen, das nicht ich, sondern er, die Verantwortung für meinen Krebs trägt. Er ist schuld, weil er mich damals vor mehr als fünfzehn Jahren so gemein sitzen gelassen hat, wie ein heiße Kartoffel fallen ließ, dass ich davon den Krebs gekriegt habe, vor lauter Schmerzen, Enttäuschung und Wut, dass ihm aber all das egal sei, wie es mir geht, den Frauen sowieso usw, usw. Ich heule vor Wut. Ich heule aus Verzweiflung, dass ich einfach keine Ruhe geben kann, dass diese besessenen Vorwürfe und das Schuldgesuche  bei den anderen in mir einfach keine Ruhe geben, dass ich keinen Frieden finden kann, dass es endlos so weiter geht und dass mit mir deshalb was geschehen muss, weil ich einfach so nicht mehr weitermachen kann. Auf der Rückfahrt schweige ich und bete.

Ich falle auf die Liege auf der Terrasse vor unserem Hotelzimmer und kann nur noch heulen. Ein tiefes, verzweifeltes Heulen. Ich schleppe mich in mein Zimmer und falle aufs Bett. Das ist nun wirklich das Ende. Ich muss aufgeben. Ich kann nur so sein wie ich bin? Ich kann keine Heilige werden, nicht den Krebs in einem Amoklauf besiegen, nicht erzwingen, dass mich irgendjemand liebt, nicht verlangen, dass die Frauen sich über die Reise freuen, mich als Gegengeschäft lieben, dass auch Rainer mich liebt oder meine Schwester oder Gott. So geht das nicht. Ich gebe auf. Ich kann nicht mehr. Nichts geht mehr. Und langsam fühlt sich das schön an. Ganz friedlich. Es ist Friede. Ich muss nichts erreichen.

Ich höre die Wellen draußen, das Hundegebell, alles ist in Ordnung. Ich liege wach da und denke wenig. Irgendwann schlafe ich ein. Langsam wird es im Zimmer heller, ich gehe nach vorne auf den Balkon. Unter mir schläft noch ruhig der schwarze Strand, ein rosa Streifen am Horizont. Das Klischee von Schönheit geht in die Hässlichkeit über, wird zur schäbigen Filmkulisse. (Aber hehe, ist nicht alles ein Film?)

Die Hotelzimmertür öffnet sich und Rainer kommt leise herein. Er legt sich neben mich. Ich heule noch einmal los, ich versuche noch einmal kurz, alte Vorwürfe herzuzaubern, ohne jede Kraft oder Überzeugung dafür. Wir liegen wie zwei dahingeworfene Puppen auf dem Bett und halten unsere Hände. Es wird ein ganz behutsames Streicheln. Ich bin erstaunt. Ganz langsam, ganz bewusst, wie beim ersten Mal, erkundende Küsse, zartes Streicheln. Ich bin nackt, braun und dünn und mir fehlt eine Brust. Aber das bedeutet nichts, alles ist schön, exquisit und sehr hell und offen. Alles ist unbekannt. Ich kenne den Mann da gar nicht, dieses schöne, fremde Wesen auf meinem Bett. Aber irgendwie leuchtet er, so 3D mäßig, ganz detailliert und real und das bin ich auch. Warum mache ich dauernd davor die Augen zu? Warum habe ich soviel Angst vor der Liebe? Weil es dann kein Zurück gibt? Weil sie so saugefährlich ist? Weil sie geteilt sein will und nichts zum Festhalten ist? Ich weiß es doch eigentlich. Warum nur bin ich so wahnsinnig dumm? In diesem Moment habe ich keine Angst mehr. „Es ist nicht leicht, dich zu lieben“, sage ich zu Rainer. „Och sagt, Rainer, „finde ich eigentlich nicht…es ist ja nicht mehr so schwer… eigentlich nicht…“. Ich frage ihn, ob ich mich auf ihn legen kann und ob ihn meine Brust nicht stört. Er findet sie auch eigenartig, aber mit seinen rauen Händen streicht er darüber. Es ist so still hier im Zimmer. Im Auge des Hurrikans. Keine Angst, keine Hetze. Ich lege mich wieder neben ihn. Streichle ihn ganz langsam. Dann zuckt Rainer zusammen. Das möchte er nicht, ein wenig Samenerguss, zu weit gegangen, zu wenig achtsam, irgendwo doch über die Grenze. Er beherrscht sich mit aller Kraft. Ich spüre seine Enttäuschung. Er geht ins Badezimmer, wäscht sich. Er nimmt es sich übel und vielleicht auch mir und versteht noch nicht, warum ihm das passiert ist.

 

 

14 Kommentare

  1. Oh Jutta,ich wusste gar nicht, wie sehr Du gelitten hast vor Deiner Reise – und währenddessen. Wunderbar geschrieben, tief berührend – und die Z#rtlichkeit mit Rainer: Schön. Bis es dann zum „Samenverlust“ kommt – wie schade, dass er damit nicht umgehen kann. Wenn schon keine Orgasmusbereitschaft, so wäre doch ein befreiender Sinn für Humor in einer sollchen Situation herrlich – und die zauberhafte zärtliche Nähe gerettet.
    Doch davon abgesehen: Wunderbar/schrecklich/ergreifend. Ich wünsche Dir das Allerbeste, was immer es für Dich ist.

    With respect,
    Angelika

    • Liebste Jutta,
      ich lieb Dich und Euch! Danke für alle die Fotos und Worte. Und ich wünsche mir, dass Du noch lange bei uns hier bleibst!
      Katja

  2. Liebste Jutta.Alles Alles Liebe fuer dich.ich bin sehr beruehrt von deinem Bericht.
    Peace und Love fuer dich.

  3. Hallo Jutta, finde deinen Bericht ebenfalls sehr berührend, kann mich den meisten Äußerungen von der Angelika nur anschließen.
    LG

    Arnold

  4. Liebe Jutta,

    ich bin tief berührt von Deinen offenen und ehrlichen Bericht. Danke. Sei ganz herzlich umarmt

    Irmgard

  5. Liebe Jutta, das habe ich nun ganz gelesen, ruhig und still, allein in der großen alten Wohnung, in eine englische Decke gehüllt. Mehr denn je spürt man Dich, wenn man das liest. Ich hoffe, daß es doch noch klappt mit dem Zement und der Stabilisierung der Wirbelsäule. Vielleicht kommt danach für Dich noch eine unvergleichlich schöne Zeit. Bei mir z.B. war es so, daß ich letztes Jahr nach einer lebensgefährlichen Erkrankung danach Monate lang glücklich war und mein Dasein jeden Tag aufs Neue genießen konnte. Den Effekt hat übrigens auch Dein Bericht auf mich. Ich fühle mich plötzlich fast wie neugeboren. Jolo, sagen diese Seiten zu mir, wie glücklich bist du dran, du hast echt eine Chance.
    Ein Wort noch zum Punkt Egoismus. Man haßt diese Christa total beim Lesen. Es ist doch wirklich Deine Reise. Aber eine Einschränkung habe ich: zu fünf Prozent hätte es auch Severins Reise sein müssen, eine Reise zu ihm, für ihn, für sein Leben, das er an Indien gegeben hat. So ist es auch egoistisch von Dir, daß Du offenbar gar nicht an ihn gedacht hast. Glaube mir, auch er kämpft gerade in gewisser Weise den Kampf seines Lebens.
    Alles Liebe, ich denke jeden Tag an Dich.
    Dein Jolo

  6. liebe Jutta, wie danke ich Dir für diesen Brief, dass ich ihn lesen darf. Wieviel Mut Du beweisst! Als ich ab und zu Eure Bilder in fb sah, kam manchmal fast Neid in mir auf, weil ich mir einrede, spirituelle Erlebnisse sind in Asien eher möglich. Und der Kampf mit dem Tod leichter zu lösen. Wie naiv und vielleicht auch eine Flucht,
    ein Weiterschieben der Verantwortung mit sich selbst. Du hast so viel gelernt und mir klar gemacht, wie feige ich bin. Danke Dir.
    Ich wusste Nichts von Deiner Krankheit , auch nicht von Deiner Brust.
    Ich wünsche Dir alle Kraft und viele gute Spirits für Deine Gedanken und Gefühle und wenig Schmerz. Und ich hoffe, noch viel von Dir zu lesen und zu hören und vielleicht sogar zu sehen. Umarmung, Dörte

  7. liebe jutta, ich bin heute durch die empfehlung einer guten freundin auf christa’s blog gelangt und möchte dir mitteilen, das ich dich gern habe und dich schätze, und das seitdem wir uns, ich weiß nicht mehr wann, zum ersten mal gesehen haben. inzwischen wohne ich nur einen steinwurf von dir entfernt und du sollst einfach wissen das ich deiner nähe bin. liebe grüsse, gerd

  8. Jai Sat Chit Anand liebste Jutta, geliebter Drilling …

    Uwe hat mir diese Seite weitergeleitet, die er begonnen hatte zu lesen, bevor er Kontakt mit dir aufnahm … und dann durften wir uns begegnen …

    ich liebe deine Offenheit, deine Wahrheit, dein Authentisch sein, deine Art, dein Wesen, deine Zerbrechlichkeit und die Kraft, die in dir ist und natürlich DICH <3 …

    Danke, dass du all das mit der Welt teilst – mit uns – und jetzt – mit GNAN – mögen die Worte des Gnani´s in dir reifen: "Keep the seperation – stay positiv – stay in the present" – be the Knower and Seer, how this is all unfolding and discharging – for eternal liberation and to BE real HEAL – jetzt weißt DU, wer DU bist und bist für Jutta da – wie sie es sich immer gewünscht hat – als der wahre Liebende <3

    Stay blessed and take care!
    With pure love and a biiiiiig hug
    JSCA
    Nada

  9. Juttelchen, ich bin bestürzt und traurig. Dein bericht ist so berührend. Ich bin so fassungslos.

  10. Oh my goodness! a significant post man. Thank you However I’m experiencing difficulty with ur rss. Don understand why Unable to register for it. Is there anyone getting equal rss problem? Any person who knows kindly respond. Thnkx

Schreibe einen Kommentar zu Katja Leyrer Antworten abbrechen

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Zur Werkzeugleiste springen