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Christa Ritter's Blog

Was kommt, könnte uns freuen!

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Unter uns gehen die Strandgespräche weiter. Meist erst, nachdem jede lange still unter den Sonnenschirm abgetaucht war, vom Sprung ins Meer unterbrochen. „Dieses Bild mit dem Kreuz ist stark,“ sage ich. Damit beziehe ich mich auf die Geschichte eines Heiligen, die wir am Tag zuvor vorgelesen hatten. Jeder von uns Vieren erinnert sich sofort: Das Kreuz, das ja auch Jesus trug. Im Kreuzgang durch Jerusalem, tief gebeugt, die Menschen belustigen sich, spucken ihn an. „Aufgestachelt von den Pharisäern,“ ergänzt Gisela. Brigitte hebt den Kopf. „So richtig habe ich die Geschichte nicht kapiert,“ schiebe ich nach. Zunächst Stille, Gedanken sammeln. „Ich glaube, der Heilige rät uns, kein bequemes Leben zu führen, sondern ein erfülltes“, murmelt Rainer. Heute würden wir das nennen: sich selbst verwirklichen. Was aber bedeutet das eigentlich? Den persönlichen Weg des Wachstums gehen, nicht des Egos? Weshalb im Grunde jeder auf diese Welt kommt? „Den Weg einschlagen, ein Mensch zu werden“ Rainer weiter, „seiner Not-Wendigkeit folgen, dem Sinn seines Hierseins. Daran wollte uns wohl die Geschichte erinnern.“

Die traditionelle Familie als Urzelle unserer Gesellschaft sei tot. Längst ist jeder gefordert, seinen ganz eigenen Weg zu erkennen und ihm zu folgen? „Woher weiß ich, was mein Weg ist,“ frage ich. „Geht nicht immer jeder seinen Weg, das ist doch ganz normal,“ argumentiert jetzt Gisela. „Nein, nicht jeder sucht diese Verantwortung,“ so Rainers Antwort. Gemeint sei wie man sich auch von Buddha erzählt: Die eigene sichere Gegebenheit, das Ego und seine Wünsche als Ausgangsort in der äußeren Welt zu verlassen und sich von da ab jeder noch so fürchterlichen Aufgabe zu stellen und daran zu wachsen. Die käme nun aus dem Inneren. Je entsetzlicher fürs Gemüt, zum Beispiel für die Bequemlichkeit, umso besser für diesen Weg ins Unbekannte. Odysseus fällt mir ein oder die Marvel-Sagen. „Das machen eigentlich nur Männer,“ behaupte ich mit leichtem Nörgelton. „Bisher nur vereinzelt, aber es gab auch eine Hildegard von Bingen,“ höre ich. Volksmäßig natürlich die Nazis. „Und Greta,“ freut sich Gisela. „Und Uschi Obermaier,“ lacht Brigitte. „Die das leider später wieder vergessen hat“, bemerkt Rainer. Wenn es auch nur eine solche Frau je gab, sei das Tor letztlich aber für alle Frauen geöffnet. Ach, immer wieder dieses Höhere, der Geist, das Innere. Passt mir gerade alles nicht, zu schwer. Ich will nur blöd in den Wellen schaukeln.

Was war da noch mit Jesus? Rainer: „Der musste ja erstmal sterben, um als neuer Mensch aufzustehen.“ Auch unter uns Freunden ginge es seit vielen Jahren um ein ständiges „Scheitern“ oder „Sterben“ aus diesem trägen, gewalttätigen Ego raus in etwas, das wir kaum sehen können, geschweige denn bisher mit aller Entschiedenheit verfolgen. Da hat er recht, denke ich. Jede von uns startete anfangs auf diese Weise in den Harem: Radikal. Ich startete zum Beispiel mit raus aus der Altbauwohnung, Umzug in ein kleines Apartment. Möbel abschaffen, Klamotten reduzieren. Auto blieb, aber ergänzend Fahrrad angeschafft. Rauchen, Alkohol, Fleisch weg. Langsames Auslaufen meiner Arbeit draußen, kein Sex mehr. Stattdessen vegetarische Ernährung, Fasten, Meditation, offene Gespräche mit gnadenlosen Analysen, dabei häufig auf Wiesen und an Seen gelegen. Hochinteressante wie merkwürdige Studien des Inneren: Für mich der Anfang eines Weges in das völlig Unbekannte. An dem ich immer wieder zweifle. „Schaut mal da hinten, sind das Pinguine oder Möwen?“ Ich liebe es, mich bei ernsten Gesprächen ganz schnell abzulenken. Die Köpfe meiner Freundinnen drehen sich zum Meer hin. „Pinguine,“ lacht Brigitte, „Möwen sind selten schwarz-weiß.“

„Diese Reise in die eigene Dunkelheit wurde in unserer Kultur mal die Nachtmeerfahrt genannt,“ fährt Rainer fort. Das sei eben dieses Kreuzaufnehmen, wovon der Heilige erzählte. Gisela leise ironisch neben mir: „Der Unsinn des Lebens.“ Ich grinse. Schon lange suchten in unserer Gesellschaft doch immer mehr Menschen nach Erfüllung. „Weil wir erleben, dass uns der Konsum, der satte Bauch nicht glücklich macht.“ Der berühmte Satz von Brecht fällt mir ein: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Die Moral als: das Kreuz auf sich nehmen, statt den Weg zu leugnen oder gar zu behindern. „Auch ihr könntet dabei fröhlicher sein, vor allem, wo wir alle zum ersten Mal ein Tool haben, das uns rausführt: das Internet,“ sinniert Rainer weiter. Rausführt aus dem „Fressen“, der überbordenden Konsumgesellschaft? Ein solches Vehikel habe es in der Menschheitsgeschichte zuvor nie gegeben. Daher nach jedem begeisterten Aufbruch ein grauenhaftes Morden. Bei uns zuletzt die Nazis. „Keine Nation, keine Revolution hat bisher den Ausstieg aus Krieg und Gewalt geschafft und nun sind wir alle dank Internet möglicherweise zum ersten Mal global privilegiert,“ höre ich, als wäre es das erste Mal. Wir könnten uns freuen? Ich mit meinem Leben auch? Freuen über das Scheitern, weil ich nur aus dem Unglück heraus scheitere in etwas Besseres?

Bin ich nicht oft verzagt, leicht depressiv, einfach schlecht drauf und lasse das auch noch an anderen aus? „Bespucke“ andere, wie damals in Jerusalem, bespucke aber eigentlich mich? „Ein hoher Anspruch. Ich finde, sowas überfordert,“ bemerkt Gisela und vergräbt ihre nassen Haare im Handtuch. „Finde ich auch“, ergänze ich, „beim ständigen Scheitern kommt doch keine Freude auf.“ Schreit das Ego, ich weiß. Aber wenn man wie Jesus einen Gott zum Vater hat… ist das anders? Habe ich auch so einen? „Wir leben in einer gottlosen Zeit,“ sage ich mit resigniertem Unterton. Konsum, Fetische, auch in uns nur Müll? „Schöne These: Nur wenn wir weiter scheitern, entkommen wir dem tödlichen Überfluss“ so Gisela. „Wir haben uns diesen Planeten bis zur Halskrause zugemüllt, Vegetation und Tierwelt vernichtet, um uns unsere Gewalt vor Augen zu führen,“ sagt Rainer jetzt. „Die Klimakrise dürfte nur eine Metapher dafür sein, dass wir uns in eine bessere Welt aufgemacht haben.“ Wie lange das dauert, also der Zeitfaktor, der sei nicht absehbar. Die Leute im Silicon Valley hätten die schöne Utopie anfangs laut gesagt: Mit dem Internet in eine bessere Welt! Inzwischen seien sie sich darin nicht mehr so sicher.

Das Kreuz. Wenn ich die Aufgabe meines Lebens nicht annehme, den mühsamen Weg zu meinem Menschsein, dann war mein Leben sinnlos? Ich werde auch nicht gut sterben können? Ich finde: Ich bin verrückt, wir Vier sind ganz schön verrückt. Wälzen so ein Thema, während die Sonne Italiens uns zum „dolce far niente“ verführen will. Auf dem Rückweg vom Strand werde ich im Café einen Nettare löffeln. Hm!

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