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Christa Ritter's Blog

Wir sitzen im Zug und sehen nur Bahnhof

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Tischtennis unter sonnenverbrannten Kastanienbäumen. Die zarte Brise kühlt ein wenig. Mein Gegenüber Bettina ist eine Generation später als ich. Diese ganze Politik interessiert mich nicht mehr, sagt sie und verschmettert den nächsten Ball. Wen interessiert die eigentlich überhaupt noch? Mich auch nicht wirklich, kommt meine Antwort. Als ich frage, was sie dann interessiere, verweilt sie im Aufschlag. Ich höre mich: Wir sind alle mit der Suche nach dem eigenen, sehr privaten, ganz persönlichen Glück beschäftigt. Du sicher auch, so wie ich. Alles den Meisten ganz unbewusst. Das ist die neue Politik des Privaten. Wumm, mein Schmetterball kommt endlich mal gut. Überrascht schaut sie mich an: Ja, genau, das ist es, was uns die ganze Zeit wie nichts anderes beschäftigt. Ich will mein Leben gut hinkriegen. Wir setzen uns auf die Steinplatte vom Tisch. Das ist ja alles so spannend und unvorhersehbar, sagt sie dann. Ich habe keine Kinder gewollt, meine Männer auch nie, und nun habe ich schon lange immer mit den Kindern anderer zu tun. Reicht doch, lacht sie, reicht mir. Siehst du, sage ich, diese ganze alte Welt der gestanzten äußeren Normen und Institutionen, dieses gewaltsam Reglementierte, wollten wir 68 nicht mehr und nun setzt sich seitdem diese Vision Schritt um Schritt bei uns allen durch. Bettinas Beine baumeln, meine auch, wie zwei Schulmädchen sitzen wir auf dem Tischtennistisch. Wie sich das, was wir täglich leben, in so etwas wie Parteien und Regierungen umsetzt, wer weiß das schon. Niemand hat bisher den Blick dafür.

Ein paar Stunden später stehe ich mit einer Bekannten in der Küche. In ihrem Zimmer läuft das Radio. Nachrichten. Sie: Diese Politiker fabrizieren eine solche Scheiße, die Merkel… Ich: Die Merkel ist so Scheiße wie ich und du. Vermutlich haben wir immer die Leute an der Macht, die wir wollen. Die Welt ist also unsere Projektion. Und dann zanken wir, nicht wirklich heftig, aber doch. Was, ich bin nicht wie die. Ich schlage etwas zu laut zurück: Keiner ist nur Fassade. In dir steckt auch das, was du an anderen nicht magst, die Merkel zum Beispiel. Ist bei mir nicht anders, bei jedem. Sie poltert zurück: Nein, jeder ist anders, immer deine Verallgemeinerungen. Mach ich manchmal, sag ich, ist nicht immer ganz falsch. Ich habe keine Lust auf Morgenstreit. Lassen wir’s, sag ich laut.

Mein Gast murmelt noch, sie habe ´68 nicht mitbekommen, diese ständigen Diskussionen, diese nervige Sinnsuche. Sieht so aus, gifte ich (ganz leise), aber grundbös. Andererseits: Ich möchte glauben, dass sich seit damals alle verändern. Auch wenn’s nur wenigen bewusst ist. Manche schneller, manche brauchen halt Zeit. Bin ich nicht viel zu langsam, zweifle ich mal wieder und trinke einen Schluck Morgenkaffee. Nicht runter machen, freundlich zu sich sein. Ist ein langer Weg. Egal. Karma, Schicksalsfäden, jeder folgt endlich irgendwie seinem ganz persönlichen Ding. Und teilt es sogar im Netz mit vielen anderen. Auch Zweifel, auch Unverdautes. Ob das reicht, um unseren Planeten in letzter Minute zu retten? Nicht enden wollende Gier als Konsumrausch gebiert Hitzewellen, Überschwemmungen, Erdbeben.

Und die Jungen machen mit oder sind doch schon woanders? Rainer redet immer vom Internet als ein Tool, das uns raus helfen wird. Aus diesem vernichtenden Kapitalismus. Intensivste Kommunikation als eine Art westliche Meditation? Später treffe ich ihn, der sich gerade mit sehr jungen polyamoren Leuten in Berlin intensiv ausgetauscht hat. Die sind schon so anders drauf, sagt er mit Überzeugung. Sein kurzer Bericht hört sich gut an.

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