merah.de

Christa Ritter's Blog

Vom Nordpol in 48 Stunden an den Äquator

| 4 Kommentare

Montag 18. Februar

Das Fieber brechen oder erster Tag nach der Hölle: Severin ruft uns zu einem gemeinsamen Gespräch zusammen. Vor allem wegen meines Krankseins haben wir jetzt diese Regenations-Pause von drei Tagen eingelegt. Wie sollte es nun weitergehen? Gibt es noch etwas, das Jutta hier im Norden erleben sollte? Jutta bestimmt bisher jede unserer Bewegungen, selbst, wenn sie das noch nicht wahrnehmen kann. Nach wie vor starrt sie auf Ziegen, auf uns begleitende Freundinnen. Oder wohin auch noch? Wo bist du Jutta? Es ist deine Pilgerreise gegen den Krebs und für das Leben und der dies dokumentierende Regisseur, ihr Sohn Severin findet, sie ist zu wenig da, ihr Gefühl stimme schon. Ihr anderen seid zu viel da, da habe ich ja keine Chance, Christa mit ihrem Fieber, Brigitte mit irgendwas, reklamiert Jutta. Du bist doch deswegen nicht genug hier, weil du, obwohl du das I-Phone weglegen wolltest, ständig weiter damit Fotos machst. Du vermeidest den eigenen Blick auf das, was hier passiert. Du schaust nur in dieses I-Phone – für die Zwillingsschwester. Wirft ihr der Regisseur vor. So hälst du deine Zwillings-Connection mit Gisela wie zwanghaft aufrecht. Auch noch im Wettbewerb zu ihr: Wer macht gerade die besten Fotos? Jutta dreht also eigentlich über ihre auf Facebook geposteten Fotos ihrer Reise einen anderen Film für ihre Schwester, die sich derzeit in Los Angeles aufhält. Damit Jutta endlich mal anfangen kann, eine ganz eigene, ihre, Pilgerreise zu machen. Um sich hinter dem Krebs, der sie dazu antreibt, vielleicht ein wenig zu entdecken. Jutta springt mir wütend ins Gesicht: Nein, nein, du hängst in deinem Blog. Kreisch! Alles klar? Ihr Geheimnis ist berührt, die weiter ständig laufende Zwillings-Connection. Wir entscheiden uns für eine Veränderung, die Jutta helfen könnte. Trennung von Facebook, Trennung von uns beiden böse-Schwestern, Trennung also von allem, was Jutta von sich selbst abhalten könnte – als Nächstes für eine Ausflugsfahrt in die Pilger-Hochburgen Rishikesh und das heilige Haridwar, sozusagen gleich um die Ecke, etwa 50 km weit. Brigitte und ich werden dorthin fahren, wo wir uns von den Wochen der Kälte etwas erholen können. Und ich gesund werde. Jutta aber wird endlich ohne uns Statistinnen ihr Ding reisen.

Blick von unserem Hotel in Richtung Himalaya

Blick von unserem Hotel in Richtung Himalaya

Hinten sind die Himalayas ganz gut zu sehen

Hinten sind die Himalayas ganz gut zu sehen

Brigitte und Jutta kümmern sich nicht nur rührend um mich, die schwer Lädierte, sondern ermuntern mich sogar aufzustehen und mich zu einem kleinen Ausflug mit Landrover zu einem Tibetanischen Zentrum aufzumachen. Noch fällt es mir sehr schwer, im Zustand meiner Schwäche jeden nächsten Schritt überhaupt zu denken, schon gar auch umzusetzen. Wir sind hier um Mussoorie auf 2.500 m Höhe und da der Ort an den Berg geklebt ist, steigst oder abstiegst du ständig, auch auf den Mals mit den vielen Händlern und kleinen Geschäften. Anstrengend besonders für so eine wackelige Kranke wie mich. Doch zunächst wie im Bilderbuch: blauer Himmel und davor bunt flatternde Buddha-Fähnchen.Kerala 004 Kerala 007Kerala 006Ein kleiner Tempel, in dem junge Tibeter in dicken alten Büchern lasen, eine große Schule, in der sich die Schüler von 6 bis 18 so heiter dem Lernen hingaben, wie ich es noch nicht gesehen, geschweige bei mir selbst erlebt hätte. Sie freuten sich gemeinsam darüber, ihr Wissen mit aller Neugier auf das Leben zu erweitern. Ich saß in ihrem Schulhof in der Sonne, an einen Pfeiler gelehnt und hörte sie „Alle Vögel sind schon da“ oder „Frere Jaque“ mit Inbrunst singen: auf in die Freiheit der weiteren Emigration. Im wilden fröhlichen Verhalten der Schüler war kein Unterschied zwischen Mädchen und Jungen zu entdecken. Sie alle trugen als Schuluniform blaue Jacken und Hosen, weiße Hemden mit Krawatte und flache Lederschuhe. Endlich kamen meine Leute vom Ausflug zum Gipfel zurück, begeistert von dort oben eine fantastische Sicht zu den Gipfeln des Himalayas erlebt zu haben. Jemand behauptete, sogar den heiligen Berg Kailasch gesehen zu haben.

Mittwoch Reisetag 1

Dies wird unser letzter gemeinsamer Tag sein. Vorerst. Zugfahrt nach Delhi. Kerala 009Kurzes Gespräch wischen Rainer und Jutta: Flugangst. Inzwischen soll die Trennung doch nicht mehr so groß sein wie besprochen. Rishikesh-Ausflug gestrichen: Das lag an euch, behauptet Jutta. Von Delhi aus werden Brigitte und ich in die Hochburg des Ayurveda, nach Thiruvananthapuram in Kerala auf unsere Kosten (geschasste Statistinnen, was die Doku betrifft) fliegen und dort umschauen.

Balwinda, Sev & Dany

Balwinder, Sev & Dany

Brigitte & Baba

Brigitte & Baba (Marcial)

Jutta & Rainer

Jutta & Rainer (hinten Sev)

Das Team fliegt auch nach Kerala, aber nur bis Cochin, nimmt von dort einen Zug entlang der Küste bis Thiruvananthapuram. Jutta kommt also doch dorthin, wohin Brigitte und ich reisen. Wozu hatten wir an jenem Abend gemeinsam andere Einsichten? Jutta versetzt sich also im Gespräch mit Rainer in ihre Flugpanik durch das Unwetter über Delhi auf dem Rückflug von Varanasi.  Horror! Todesangst! Es geht aber um Vertrauen in das Leben, sagt Rainer. In andere Menschen, die gut fliegen können, es geht um Vertrauen in dich. Nicht den ewigen Freak spielen, der nur andere Freaks als vollwertig anerkennt und jeden Nicht-Freak zum Spießer erklärt. Komm auf die Welt, Jutta. Die Flugangst ist Zeichen deiner Lebensangst und die ist dein Guru, nicht die netten alten Männer mit Bart. Die tun dir nichts! Die bringen dich aber auch nicht ins Leben. Wie recht Rainer hat, finde ich und schaue in den Spiegel. Selbstverantwortung… immer wieder in der Praxis rätselhaft.

Donnerstag Reisetag 2

Verdammt hart: Wir scheuchen uns um 3 Uhr morgens gegenseitig aus den Hotelbetten. Das Team und wir beiden Frauen nehmen, da ähnlich frühe Abflugzeiten, gemeinsame Taxis zum Airport. Stockdunkel. Dann setzen sie uns ab, Küsse, Umarmungen, Winken. Wir fliegen IndiGo, eine große indisch-regionale Airline, Jutta und das Team fliegen Air India. Ich fühle mich trotz Schwäche und Gehbehinderung (das lange Zugsitzen hat meine Füße anschwellen lassen) erleichtert und freue mich auf die Wärme und die Tropen. Tolle neue Maschine.Kerala 013 Nach Zwischenlandung in Cochi wechseln Brigitte und ich immer wieder die Fensterseiten, um vor allem bei der Landung die Kokos- und Bananenplantagen, auch die kleinen Dörfer und endlich das blaue Meer auf uns wirken zu lassen. Welcome!

Lighthouse Beach

Lighthouse Beach

In ganz Indien streiken heute und morgen die Taxis, aber für Westlerinnen gibt es natürlich immer irgendwo Streikbrecher. Doppelter Preis dann sausen wir gar nicht erst in die Stadt, sondern gleich zu den Kovalam- Badebuchten, wo uns am Light House Beach ein Freund erwartet, der hier seit ein paar Tagen mit seiner Tochter seine Indien-Reise beginnt. Er ist für uns fündig geworden: ein kleines einfaches Hotel in der zweiten Reihe, also nicht mit Blick auf Meereswellen, dafür mit Blick in Palmen mit grünen Kokosnüssen. Kerala 014Hotel Sky Palace. Preis pro Nacht 700 Rupies, das sind € 10, inkl. Duschbad mit Toilette, großem Bett, Ventilator an der Decke und langer Terrassen-Veranda, die alle Bewohner teilen, jeder mit eigenem kleinen Sofa und Tisch in buddharot davor. Kerala 015Es ist heiß in Kerala: 30 Grad, sehr feuchte Luft. Wir sind endlich in den Tropen eingetrudelt. Die Gerudas über uns gleiten krächzend, drüben hat ein Ausnahmehund seinen Halter gefunden und bewohnt einen kleinen Balkon, manchmal steckt er die Schnauze unter der Brüstung in meine Richtung, Meeresrauschen von weitem, manchmal Meeresdonnern je nach eigener Audio-Sensibilität.

Hier sind Jutta, Sev + Balwinder eingezogen: Seafront

Hier sind Jutta, Sev + Balwinder eingezogen: Seafront

Unser Ski Palace ist sehr sauber, ich fühle mich in dieser Einfachheit wohl. Klopapier und Mineralwasser musst du dir bei diesem Preis natürlich selbst besorgen.

Schnell wird klar, wir sind nicht nur im neuen Goa gelandet: Hier gibt es eben auch den neuen indischen Tourismus. Überall bei den kleinen Händlern wird dann vor allem für uns Westler der klassische indische Textil- Kitsch angeboten, wovon auch mir ein Teil sehr gut gefällt. Diese Sachen sind deshalb so unschlagbar schön, weil sie in einer großen Kultur tiefster Religiosität zur Perfektion entwickelt wurden: Einer Kultur der einfachen Stoffe, der natürlichen Farben, der materiell bescheidenen, spirituell zu den Göttern gewandten Lebensweise über tausende von Jahren entstanden.

kleines Restaurant neben unserem Hotel

kleines Restaurant neben unserem Hotel

Unsere Bucht zur anderen Seite

Unsere Bucht zur anderen Seite

Kerala 024Der Freund zeigt uns das vegetarische Restaurant Lonely Planet, eine überdachte Terrasse an einer kleinen Teich-Idylle mit bemaltem Holztiger. Wir beobachten verschiedene Vögel, während uns der beste frische Ananas-Saft ever gebracht wird. Zzzziipp. Kartoffelgericht… einfach, Knofel mit Butter. Nach dem ganzen indischen Koch-Mus, hoch gewürzt, und nach meiner langen Fastenzeit genieße ich diese simple Kost. Vorsichtig. Später noch mein erstes Bad im Meer und da hauen mich die ersten harmlos aussehenden Wellen gleich um. Das Meer hat hier eine enorme Kraft: Kein Wunder, dass niemand über die Anfangstiefe für Kinder hinaus schwimmt. Paddelt. Es sind riesige Wellen, die sich davor brechen. Ich bin wirklich kein Wellen-Angsthase, aber hier werde ich das Schwimmen neu lernen müssen. Leider ist das Wasser nicht karibisch blau, sondern eher grau, der Sand fast schwarz. Die Inder, hier vor allem Jüngere, tragen im Wasser Kleidung, die Badehose, gar der Bikini sind noch lange nicht angekommen. Vor dem Strand eine lange Promenade. Lauter Geschäfte, Restaurants, Hotels – Tourismus der indischen Art, trotz der Dichte weit entfernt von jedem Massentourismus.

Kleine süße Prinzessin, die Brigitte und mich abends am Strand becircte

Kleine süße Prinzessin, die Brigitte und mich abends am Strand becircte

Abends, nachdem Brigitte sich eine erste, von ihr so ersehnte Massage gestattet hatte, nach einem Walk mit ihr inkl. üblichem Stromausfall, zünde ich in meinem Zimmer eine Kerze an. Sie hält den Ventilator aus! Die Atmosphäre ist angenehm, ich fühle mich ein wenig angekommen. Die Geräusche der Vögel in den Palmen, das entfernte Meeresrauschen, die feuchte Nachthitze. An der Zimmerdecke läuft ein Gecko jagdlustig, wie mir scheint. Hinten tanzt eine fette Fliege ihren Abendtanz. Er hat sie längst im Visier. Nur in ein Laken eingewickelt, sacke ich weg. Schlafen. Wer wurde Sieger: der Gecko oder die Fliege?

 

 

 

4 Kommentare

  1. Wunderschön. Und es nimmt weiter Fahrt auf. Es wird ein Buch! Es wird ein Buch!

  2. Herzlichen Glueckwunsch zu dieser wunderbaren Entscheidung! Geniesst die Ruhe und goennt euch einen tropischen Fruchtsalat. Remember?
    Mango, Papaya, Banana and Pineapple …. Sprinkle with some lime juice and just a little bit of fresh coconut ….

  3. Schön geschrieben, liebe Christa. Sitze hier (in LA, slightly Oscar-infected), lese Deinen Text und lächle still vor mich hin. Das Hotel für 700 Rupees merke ich mir, fürs nächste Mal. Weiter eine schöne Zeit und neue Kraft/Gesundheit. Angelika

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Zur Werkzeugleiste springen