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Christa Ritter's Blog

Im Westen was Neues?

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Drüben im Westen wird die Bundesrepublik gegründet, sagt mein Vater, in Korea ist Krieg, lese ich auf einem Plakat. Wo ist der Westen, wo ist Korea? Mit dem blond gelockten Christian sitze ich zum ersten Mal vor einer riesigen Kino-Leinwand. Hinter dem Glienicker See, hinter Kladow und dem Wannsee: der fast platt gebombte Ku-Damm, Ruinen-Reste, ein halb zerschossener Kino-Palast und darin Gullivers Reisen, in Farbe.

Gullivers Reisen

Gullivers Reisen

Ich bin von der großen Leinwand verzaubert und beeindruckt. Sie verspricht mir eine schönere Welt. Wie die ersten Opernbilder: Hannes fällt vom Dach oder Hänsel und Gretel. Aber dann soll sich etwas entscheidend verändern. Weg von den Kommunisten: Wir geben unser Haus auf und ziehen um nach Westdeutschland. Zum letzten Mal umarme ich unsere Ostpreußin im Haus, meine geliebte Frau Schmidt. Die uns, wenn die Eltern abends lang fort sind, schwermütige Lieder ihrer Heimat vorsang.

mein erstes Fahrrad

mein erstes Fahrrad

Umzug aus dieser vorstädtischen DDR in die westliche Freiheit eines ebenfalls zerbombten Düsseldorf als zukünftigem Schreibtisch des Ruhrgebiets. Fremd-Rheinisches: hier am Hofgarten überall Ruinenlöcher.

Brief aus den Ferien an die Eltern

Brief aus den Ferien an die Eltern

Wohnungen sind knapp: Wir beziehen in Untermiete ein großes Altbau-Zimmer mit einem Kabuff im Flur, worin Clara und ich schlafen. Wir rücken so auf kleinstem Raum zusammen, als wären wir auf der Durchreise. Unser Spielplatz sind jetzt Ruinen und Straßen. Mein Vater baut noch mit fast Fünfzig am langen Arm des Berliner Freundes eine Werbeagentur auf. Es dauert nicht lang und ein grauer Opel Rekord steht vor unserer Haustür. Die Langsamkeit ist vorbei, als zöge die Zeit an und die Tage sind strenger geregelt. Ich vermisse unseren Garten, den Wald, die Seen. Zum Schwimmen fahren wir in ein Schwimmbad nach Kaiserswerth. Das Schwimmen muss ich im Becken neu lernen und mein Vater hält für mich die Angel.  Plötzlich schlucke ich Wasser, finde die Angel nicht, um mich festzuhalten und versinke unendlich langsam in die Tiefe. Hier wird es ruhig, sanft und weit. Sterben ist schön. Bis mich die Arme meines Vaters an sich reißen und ich japsend auf der Wiese liege.

Camping durch Süd-Europa

Camping durch Süd-Europa

In den Sommerferien fahren wir zum Campen ans Mittelmeer. Meine ersten Auberginen und Paprika-Schoten als ein Gericht, das sie hier Ratatouille nennen. Zögernd tastet meine Zunge den Gaumen entlang. Sowas Bitteres kann man essen? Große Freude: Für die bestandene Aufnahmeprüfung auf das Luisen-Gymnasium bekomme ich zur Belohnung eine Kinokarte für den Film Die größte Show der Welt und eine Ananas, nur für mich allein. In der neuen Schule, einem Koloss aus rotem Stein, muss ich mich durchsetzen. Und falle doch eher in extreme Schüchternheit. Oder wasc lähmt mich? Noch mit 11 Jahren lutsche ich am Daumen. Zweimal verreisen wir Schwestern in den Sommerferien allein zum Spracheüben nach England: Liverpool und London in englischen Familien.

in Liverpool  von links Clara, Alice, Mutti und ich

in Liverpool von links: Clara, Alice, Mutti und ich

Ich glaube, das hat uns beiden gefallen. Weniger gut gefällt mir das Skilaufen, zu dem mich mein Vater geradezu zwingt. Sein Lieblingssport soll auch uns gefallen. Auf einer von Wolken verhangenen Parsenn in Davos: Ich rase wie blind die Abfahrt runter, bleibe mit einem Ski stecken, drehe mich und höre erstmal eine Weile nicht mehr auf zu schreien. Damals keine Sicherheitsbindungen, Holzski. Der Bergsamariter spritzt mir Morphium, damit ich den Transport im Schlitten runter ins Dorf überstehe. Zersplitterter Unterschenkel, es droht ein verkürztes Bein. Erstmal werden die Splitter verdrahtet, Operationen, weinend in Krankenhäusern, acht Patienten in einem Zimmer. Warum dieses Weigern? Mit meiner Freundin Loni, die ein Jahr später die Constructa-Millionen erben wird, entdecke ich die vielen Verkaufstische im Kaufhof. Mehrere Etagen bis in die Kuppel, Rolltreppen. Wir klauen Schokolade und Käse: Die Beute auf der Treppe gemeinsam zu verputzen, macht uns riesigen Spaß. Niemandem erzählen, versprechen wir uns.

Li: ich als Inderin, knieend Michael als Mozart, Clara als Cowboy

Li: ich als Inderin, knieend Michael als Mozart, Clara als Cowboy

Weniger gut geht es aus, als Michael und ich uns gegenseitig unter dem Schreibtisch seines Vaters die Hosen runterziehen. Neugieriges Tasten. Bis seine Tante an der Tür rüttelt, die wir verschlossen hatten. Hot Seat bei meiner Mutter: Was habt ihr da gemacht? Ich verrate nichts. Endlich Rollschuhe! Ich hatte sie mir so sehr gewünscht. Noch ist unsere Straße kaum befahren, sie gehört uns. Und doch sind wir längst im aufkommenden Wirtschaftswunder gelandet. Die ersehnten Lederhosen, nein, die liegen leider nicht unter dem Weihnachtsbaum. Das neue Auto wird auf einer Fahrt nach Utrecht ausprobiert: Als wir nach dem Weg fragen und die Holländer das deutsche Nummernschild sehen, wenden sie sich ab. Aber die Familie unseres früheren Kriegsgefangenen empfängt uns mit freudigem Hallo. Die ganze Verwandtschaft hat sich um die Tafel versammelt. Auch sie besucht uns dann immer wieder. Als der Holländer stirbt, bedankt sich seine Frau vor den Trauernden bei meinem Vater. Waren meine Eltern keine Nazis?

Endlich gelingt es ihnen: Wir beziehen ein Einfamilienhaus in einem Vorort von Düsseldorf. Erste Fifties-Möbel. Meine Mutter entdeckt die indonesische Reistafel und sogar der deutsche Innenminister Schröder speist in unserem Esszimmer. Mein Vater gestaltet die Werbung für den Wahlkampf seiner Partei. Meine Eltern gehen gerne aus und begeistern sich für Entertainer wie Ella, Satchmo und Marlene im Apollo-Theater an der Kö. Sie verschwinden auch häufig ins Kino. Ihre Nacherzählungen der Filme am Frühstückstisch klingen aufregend: Ich liebe auch die Fotofilme in der Film und Frau. Besonders die dramatische, dunkle Seite, immer sehe ich Verborgenes. Noch fällt mir das katholische Mädchen-Gymnasium leicht, wenn ich auch ahne, ich bin dort nicht ganz richtig.

Klassenausflug, Mutti als beliebte Begleitung

Klassenausflug, Mutti als beliebte Begleitung

Meine jüngere Schwester Clara spielt noch hingebungsvoll mit Puppen, während ich schon mit den Jungs über Zäune klettere. Räuber und Schanditz. Meine Mutter kocht gern und gut. Immer vorher ein Gebet, zum Schluss die Nachspeise, unbedingt was Süßes. Beim gemeinsamen Essen wird kaum über Persönliches geredet, eher diskutieren wir viel über Politik oder Kunst. Ich erinnere Bürgerliches: Theater, Oper, aber auch Adenauer, Strauß und Wiederbewaffnung. Die Eltern sind gegen eine Bundeswehr. Mein Vater ist oft zärtlich zu meiner Mutter, sie küssen sich, er lobt sie. Eines Tages stürmt unser Lieblingsonkel Hermann, der jüngste Bruder meines Vaters, aufgeregt ins Haus.

Clara und ich zwischen Herrmann und seinem Freund

Clara und ich zwischen Herrmann und seinem Freund

Er ist etwas, was wohl gefährlich ist: homosexuell. Ich sehe im Brockhaus nach, was das bedeutet. Das ist strafbar, steht da. Onkel Hermanns Arm streckt uns mit einem weiten Lachen eine Schelllackplatte entgegen. Die muss was Tolles sein. Schon dreht sie sich auf dem Plattenspieler. Dm, dm, ddt… one, two, three o’clock, four o’clock rock. Mein Onkel wirft die Beine in die Luft, rudert mit den Armen, verdreht die Augen. Tanzen? Na los! Wir springen auf, verrenken uns alle, auch meine Eltern, zu dieser irren, verrückten Musik. Irgendwie sind alle plötzlich aus der Haut gefahren: Rock around the Clock. Von jetzt an Bill Haley im Kino, Rock und Blues bei Radio Luxemburg, AFN, BFN und manchmal mit Chris Howland im WDR. Sogar beim Hausaufgabenmachen, wenn Mutti weg ist.

Nach diesem Nazi-Zeug und den vielen Toten ist das Schunkeln nur im Karneval erlaubt, mir scheint, selbst lautes Lachen ist eher verboten! Schläge aber nicht. Mein Vater allerdings hält sich zurück. Nur einmal schlägt er in seinem Jähzorn so zu, dass ich den Atem anhalte. Meine Schwester Clara will am Nachmittag zu einer Riverboat-Shuffle auf dem Rhein auslaufen, er verbietet es. Keine Diskussion! Als sie einfach nicht locker lässt, holt er mit seiner Hand so heftig aus, dass ihr Kopf gegen die Wand donnert. Noch heute höre ich diesen Wums, als wäre es mein Kopf gewesen. Ich kann seine plötzliche Brutalität nicht fassen. Schläge gibt es sonst nur von meiner Mutter und die treffen immer mich, die Große: Sobald meine Schwester wegen irgendwas losheult, geht die Tür auf und ich fange mir eine, ohne weitere Diskussion. Eine oder mehrere Ohrfeigen. Wahrscheinlich provoziere ich oft absichtlich, quäle meine arme Schwester oder lasse meine Wut an der Kleineren aus. Die Schule ist für mich schon lange kein Hort der Freundlichkeiten. Selbst unter Mädchen wird sie zu einem weiteren Schlachtfeld.

Oberstufen-Klasse

Oberstufen-Klasse

Besonders unsere Klasse ist bald als wild verschrien: Wir torpedieren zum Beispiel unsere schwächelnde Mathe-Lehrerin mit nassen Schwämmen, sobald sie das Klassenzimmer betritt. Nasse Schwämme bis sie weint. Und auch die kleine Frau Paul, unsere Biologie- und Erdkundelehrerin, mit den Kringellöckchen und den angepinselten rosa Bäckchen, in ihrem hellblauen Tweed-Kostüm, malträtieren wir gnadenlos mit frechen Sprüchen. Die Arme ist nicht in der Lage, sich zu wehren. Wobei ich hin und hergerissen bin: Aggressivität und gleichzeitig Mitleid.

Landschulheim mit Jungensklasse (immerhin!)

Landschulheim mit Jungensklasse (immerhin!)

Die Religions- wie die Deutschlehrerin aber liebe ich. Frau Oechelhäuser, die fürs Deutsche, ist faszinierend hässlich und es kümmert sie nicht die Bohne. Eine freche, wache, intelligente Frau, eigenständig mit völlig unkatholischem Humor. Mit ihr nehmen wir die Verfolgung der Juden durch die Jahrhunderte durch, etwas, das nicht im Lehrplan steht. Sie organisiert sogar in unserer Aula einen Filmtag, der mich so beeindruckt, dass ich die Nacht danach nicht schlafen kann: Erst eine Doku über die Befreiung der KZs, dann eine über Hiroshima und Nagasaki.

Die Filme verbinden mich plötzlich mit den Geschichten, die ab und zu meine Eltern erzählten. Von dem jüdischen Ehepaar, das sie eine Weile in unserem Balkonzimmer versteckten und das zuvor in Berlin wohnte. Mein Vater hatte, es war wohl um 1943, einen Tipp bekommen, dass man sie in den nächsten Tagen abholen würde. Deportation. deport2_kleinAls er sie daraufhin drängte, schnellstens zu packen und sich bei uns zu verstecken, weigerten sie sich anfangs. Sie konnten nicht glauben, in welcher Gefahr sie sind. Mein Vater musste geradezu auf sie einreden, bis sie endlich ihre Koffer packten. Ein paar Tage später wurden uns per Spediteur ein paar Umzugskartons zusätzlich geliefert. Als einer davon etwas abrupt auf die Steinfliesen unserer Diele abgesetzt wurde, brach der Karton an einer Stelle auf und ausgerechnet der Talmud fiel vor die Füße meiner Mutter. Ihr blieb quasi das Herz stehen. Der Lieferant aber machte nur eine dieser unnachahmlichen Berliner Bemerkungen wie: Immer verleg ich die Brille, wenn‘s um die Wurst geht. Damit drehte er sich um und war weg. Ein anderes Mal entdeckte jemand in unserer Garage einen siebenarmigen Leuchter dieser Freunde. Alles sehr gefährlich, wie ihr euch denken könnt. Wieder passierte nichts: Als gäbe es wirklich diese Schutzengel.

Mein Vater liebte Prag, die Menschen dort und ihre Eleganz und besaß besonders schöne Maßschuhe. Er hatte sie in Prag handnähen lassen, als er mit seinem Freund und Partner Walter ein Jahr vor Kriegsbeginn in Prag eine Niederlassung ihrer Berliner Werbeagentur aufmachte. Auf diese Weise lotsten sie, so erzählte er mal, jüdische Freunde von Berlin aus nach Prag, auch Georg, der uns mit seiner Familie häufig in Düsseldorf besucht. Walter und mein Vater, die beiden Freunde und Partner der Werbeagentur, ergänzten sich: Walter kümmerte sich um die geschäftliche, mein Vater um die kreative Seite. Was sie verband: Sie waren schon in der Jugendbewegung zusammen, teilten manche freche Freundin und waren gegen die Nazis. Dann marschierten die Deutschen in Prag ein. Die jüdischen Freunde waren gefährdet, eine neue Niederlassung musste her: Paris. Bald arbeiteten Georg und die anderen in Paris. Mehr rettender Schein als eine echte Agentur. Als wenig später auch dort die Deutschen einmarschierten, flüchtete Georg mit seiner Frau an die Cote d’Azur, sie gerieten aber dort statt auf ein rettendes Schiff in die USA in ein Internierungslager. Dabei verloren sie ihr noch ungeborenes Kind. Beide, auch die spätere Tochter, besuchen uns oft. Dann wird viel weggelacht. Vor allem diesen leichtfüssigen, charmanten, attraktiven Georg mag ich. Nach Kriegsende war er doch kurz in das New York gefahren, das ihm während der Flucht verwehrt geblieben war: Denn seine Eltern hatten die Emigration dorthin geschafft und Georg würde den verspäteten Umzug vorbereiten. Im Hafen lagerte noch die Sammlung der Eltern: wertvolle Kunst aus China. Heute gehört sie zum Bestand des MOMA. Aber der Jude Georg fremdelte in New York und sehnte sich zurück nach Deutschland. Er kam schnell zurück und stieg bald zum Geschäftsführer von Blaupunkt auf. Auch Walter versuchte sich kurz nach Kriegsende in New York. Könnte es sich lohnen, seine erste Nachkriegs-Werbeagentur auf der Madison Avenue aufzumachen? Während Deutschland in Schutt und Asche lag? Als armer Schlucker aus dem Land der Bösen saß er dann in Manhattan. Eine Deutsche kochte für ihn und hatte sicher manche Tipps: Marlene Dietrich. Vielleicht hat sie ihm abgeraten. Jedenfalls machte er seine Nachkriegsagenturen dann in Berlin, Düsseldorf und München auf. Marlene kocht für einen deutschen Schlucker aus Berlin: Verrückt nicht? Marlene_Dietrich_in_No_Highway_(1951)_(Cropped)Es waren eben verrückte Zeiten. Vielleicht auch so: Die Zeiten sind immer verrückt, weil wir verrückt sind. Wir Menschen in unseren komischen Körpern voller Enge und Gewalt und wie wir diese Triebe zu bändigen versuchen. Oder zur Transformation nutzen. Durch Höflichkeiten, Kultur, Institutionen. Zivilisation! Alles nur ein dünner Firnis, darunter das Monströse neben Wunderbarem, das Tier, dieses Mörderische immer auf der Lauer. Nachdem wir Haremsfrauen nicht mehr an die Liebe zu den Männern glauben konnten und uns deshalb mit einem erfahrenen Kommunarden zur Sichtung unserer eigenen Höllen zusammen taten, hat jede von uns diesen Killer in sich immer wieder sehen müssen. Wenn du einmal das Tor aufgemacht hast… Ach ja, die Prager Schuhe.

Dazu gibt es noch eine Geschichte: Ich bin etwa 12 Jahre alt, meine Eltern sind fort. Ich bin allein zuhause. Es klingelt. Vor mir steht ein ausgemergelter Mann in mehr oder weniger Lumpen gekleidet. Seine Augen flehen mich stumm an, ich schaue auf seine nackten Füße. Sie bluten, sind schmutzig. Er sei aus der DDR geflohen und unterwegs zu seinen Verwandten. Ich bitte ihn in unsere Diele und gehe in den Keller zum Schuhregal. Dort fische ich die schönsten Schuhe meines Vaters heraus, nämlich ein Paar hellbraune Prager Maßschuhe.

Prager Maßschuhe

Prager Maßschuhe

Die überreiche ich ihm, suche noch ein Paar passende Socken und schmiere dem Ausgehungerten in der Küche dicke Stullen für den Weg. Während er still in der Diele wartet. Als meine Eltern zurück kommen, erzähle ich von dem unerwarteten Besuch. Sie sind reichlich entsetzt, dass ich diesen Fremden so einfach ins Haus gelassen hatte. Und dann noch die Schuhe… dann aber müssen sie lachen. Alles gut gegangen. Und dass diese Schuhe auch noch einen dankbaren neuen Träger finden: Alles gut! Diese Geschichte erzählen sie dann noch öfter mal ihren Freunden.

Eins unserer Traumpaare

Eins unserer Traumpaare

Filme, Bücher, bessere Welten. Clara und ich versuchen eigene diffuse Sehnsuchtsorte zu erfinden: Bevor wir einschlafen, spielen wir im Bett aufregende Szenen zwischen Cary Grant und Kim Novak. Es ist dunkel, wir erzählen uns abstruse Geschichten. Warum eigentlich gerade aus Hollywood? Manchmal streicheln/trösten wir uns dabei. Immer geht es um Liebe, Verrat und Tod. Ich vertrete meist die dunkle, Clara die helle Seite. Am Ende werden viele Böse bestraft, also häufig ich, und wenige Gute mit Liebe belohnt, also sie. Sobald ich ein Kino betrete und der Film beginnt, lasse ich meinen Körper hinter mir und bin in einem Paralleluniversum, bin virtuell. Ich betrete diesen anderen Raum und damit das eigentliche Leben. Selbst wenn ein Film so tut, als wäre er extrem realistisch, selbst wenn ein Film sich dokumentarischer Mittel bedient, für den Verstand des Zuschauers funktioniert er doch wie ein Traum. Davon bin ich überzeugt. Die Logik des Kinos ist die Logik des Traums, sagt einer, der Filme macht.

Unter mir wackelt der Boden, in mir erst recht

Meine Eltern sorgen und kümmern sich um uns Mädchen. Wohlbehüten, Verstecken, Lügen. Finde ich. Dabei bemühen sie sich, in diesem bürgerlichen Gefängnis, das Richtige zu tun, uns zu beschützen und gute Eltern zu sein. Doch ich zweifle im Stillen, dass sie mich lieb haben. Oft gehen wir mit den Eltern hinter unserem Haus lange im Wald spazieren. Sie lieben und ich hasse diese Spaziergänge. Die meisten meiner Schulfreunde wohnen in der Stadt. Wo wir wohnen, in diesem piefigen Kaff, ist Abstellgleis. Deshalb freue ich mich immer auf die Ferien, weil wir dann weg fahren: Im Winter mit den Eltern zum Skilaufen, in den Sommerferien manchmal allein mit der Schwester, wegen der Sprachen nicht nur nach England, auch an die Cote d’Azur.

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Aus den USA und aus Belgien besuchen uns Austauschschüler. Dann ist was los bei uns, jedenfalls mehr als sonst. Ist doch alles gut? Warum werde ich dann zwischen Mädchenknicks und Widerhaken zunehmend unglücklich, verschließe mich? Ist nur der Anfang dieser komischen Pubertät? Ich will nicht weiblich getrimmt werden und weiß gleichzeitig nicht, wie ich dem entkommen kann. In der Schule ist mein eher dunkler Erfindungsgeist wenig gefragt. Der katholische Zeigefinger droht. Nur in Kunst und Turnen tobe ich mich aus und werde belohnt. In den üblichen Fächern ecke ich oft an, die Noten werden schlechter, die Lehrerin beschwert sich und meine Mutter muss sie schon wieder beruhigen oder sogar beim Elternabend etwas gerade rücken. Aus den Schulbüchern lernen, fällt mir schwer. Will ich nichts lernen, weil ich alles zu wissen glaube? Mit dreizehn etwas, von dem ich trotz aller Filme gar nichts weiß: Erster Zungenkuss, verliebtes Streicheln meines noch sehr kleinen Busens, Liebesbriefe von Rolf, die meine Mutter abfängt. Immer mehr Ge- und Verbote hindern mich, ich verstumme und leide nicht nur pubertär. Wohin will ich? Diese Welt liebt mich nicht so wie ich bin, also liebe ich sie auch nicht. Anspannung, Angst. Ich ziehe mich immer häufiger in mein Zimmer im ersten Stock zurück und bin traurig, fast schon depressiv, irgendwie nicht so richtig am Leben. Versunken in Träumereien: Ich möchte wie Jean Seberg oder wie Audrey Hepburn werden. Schön, klug, bewundert und von vielen Menschen beachtet. Clara schwärmt für den gerade verunglückten James Dean. Sie baut in ihrem Zimmer einen kleinen Altar für ihren toten Traummann. Filmzeitschriften, die Abenteuer der Enid Blyton, die Wilhelm-Busch-Bücher, ich erinnere ein geheimnisvolles Buch über die Indianer am Amazonas. Plötzlich überall Alarm. Zurück in die deutsche Vernichtungs-Maschinerie: Ich verschlinge das gerade erschienene Tagebuch der Anne Frank. Tränen. Auch weil sie, da bin ich sicher, mit mir durch ihr Buch redet. Anne wird während des Lesens für mich eine heimliche Freundin, sie berührt mich. Warum hat diesen Menschen niemand geholfen? Diese Scheissnazis! Solche waren meine Eltern nicht, das weiß ich jetzt. Mutti war zwar im BDM (Bund deutscher Mädchen der Nazis): Aber nur, weil sie als Vollwaise arm war und dort ein kostenloses Training zur Leistungsschwimmerin haben konnte, sagt sie.

Mein Vater ist ständig unter Druck, seine Agentur ein täglicher Kampf. Für seinen geschäftstüchtigen Freund in Berlin, der sein Boss ist, muss er Erfolg bringen: neue Etats von neuen Kunden. Komisch: Mein Vater duckt sich vor ihm, dem Freund, in der Rolle des Untergebenen. Weil er vor allem auf Provisionsbasis arbeitet? Warum setzt er sich als der kreative Mann vor Ort nicht auf gleicher Augenhöhe durch, spricht sich mit ihm nicht aus? Schließlich mag er seine Arbeit, scheint bei seinen Angestellten und den Kunden beliebt zu sein. Mir rät mein Vater einmal: Von einem Mann finanziell abhängig werden, das solltest du besser vermeiden. Und doch soll meine Mutter mein Vorbild für Glück sein: Als Jungfrau zu heiraten, festige die Ehe. Das glaube ich ganz und gar nicht. Einmal sagt er über mich leise zu ihr: Mit dieser Zahnstellung wird sie schwer einen Mann finden. Der Satz tut mir weh, ich erstarre. Die Verletzung nistet sich ein, tief, dann ist sie vergessen. Ich habe meinen Überbiss von Papi geerbt. Um mir zu helfen, schleppt mich meine Mutter zur Kieferorthopädin. Mir werden zwei Backenzähne gezogen, um Platz zu machen und dann trage ich jahrelang nachts eine Spange. Tatsächlich hat sich dann meine Zahnstellung wesentlich verbessert. Aber eine Schönheit, die werde ich nicht. Bleierne Zeiten: Ich kann mit niemandem wirklich sprechen, werde unsicher und ängstlich. Ich ziehe mich weiter in mein Schneckenhaus zurück. Auf allein kann ich mich verlassen, es beschützt mich, sagt Sherlock Holmes. Was ist los mit mir? Nach welchen komischen Regeln läuft dieses Leben? Warum zittern die Hände meines Vaters? Warum stürzt manchmal dieser Zorn aus ihm, den er Jähzorn nennt? Wir leben von zahllosen Toden, das Leben ist eine Tortur. Sadistisch und masochistisch, andere quälen, von anderen gequält werden, alles, weil man sich selbst quält. Geschieht mir recht, wenn niemand mich liebt. Liebe ich denn jemanden oder mich oder irgendetwas? Vergraben in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften. Werde ich mal Horror-Geschichten-Erzählerin oder eine Malerin? Sollte ich nach Amerika übersiedeln, ins Land des Unbegrenzten? Heiraten? Kinder? Vielleicht. Auf jeden Fall was Besonderes…

Manchmal kommt mir meine Mutter so vor, als trage sie eine unsichtbare Strumpfmaske, wenn sie mit meinem Vater ist. Als spiele sie eine Rolle, obwohl sie lebhaft und fröhlich sein kann. Für ihn, für sich? Spinne ich? Nur wenn sie mit meiner Schwester und mir nachmittags von sich erzählt, dabei unbeschwert lacht und albert, während wir Tee trinken, schimmert auf, dass da auch etwas ganz anderes in ihr sein könnte. Was nur? Herma Planck-SzaboDann sind Mutter und Töchter drei Mädels. Kräftig, frech und lebenslustig. Dann liebe ich sie. Abends, wenn der Geplagte von seinem anstrengenden Job zurück ist, legt sie den Schalter um und wird zur sorgenden wie tröstenden Ehefrau. Und mein Vater versichert ihr wieder, wie sehr er sie liebt. Mir dagegen erscheint sie dann wie eine Verräterin. Ich grüble: Hat er sie gekauft? Um was soll es eigentlich gehen, wenn ich mal erwachsen und verliebt bin? Unser neuer Plattenspieler steht jetzt in einem unserer Mädchen-Zimmer, dieser eiförmige Koffer von Philips: Little Richard, Paul Anka, die Everly Brothers oder Elvis. ElvisPresleyEPEtwas Besonderes werde ich eher im Negativen: In der Schule störe ich, bin oft renitent zu den Lehrern oder versinke in grollendes Schweigen. Ich schwänze mit einem Vorstadt-Elvis, der aus einer mir fremden Arbeiterfamilie kommt, die Schule und hänge mit ihm stattdessen auf seinem Motorrad oder im Bali-Kino ab. Inter-Erotisches. Was macht man mit Jungens wirklich? Ich hasse mich. Die ein oder andere Schulfreundin traut sich an diese komischen Typen schon näher ran. Thora gibt damit in der Klasse an. Der neue Skandal-Film Die Halbstarken interessiert mich, Jugendliche, die randalieren: Er ist aber erst ab 16 zugelassen. Ich juble, dass Mutti als Erziehungsberechtigte mit mir Kleinen in diesen verbotenen Film geht. Aufgeklärt haben mich meine Eltern nicht. Es war ein schmales Büchlein, das mir meine Mutter irgendwann hinschob.

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Sonst immer wieder rätselhafte Verbote, das Geschlechtliche muss voller Gefahren sein. Auch das Wirtschaftsgeld für die Woche ist nicht einfach zu haben. Mutti nimmt dafür immer einen langen Anlauf. Erstmal klagt sie über Kopfschmerzen, während sie im Zimmer auf und ab geht. Wenn er zurück ist, muss sie meinen Vater wieder bitten, muss ihre Ausgaben auf den Pfennig bei ihm abrechnen. Ich bedauere sie, sehe sie unterwürfig. Immer entsteht dabei Streit. Obwohl mein Vater nicht geizig zu sein scheint. Aber er spart eben auch. Für das nächste eigene Haus. Du kannst nicht wirtschaften, schreit mein Vater. Und meine Mutter ist geknickt. Ja, sie kauft uns Eis oder Berliner Pfannkuchen, eigentlich alles, was wir uns wünschen. Mein Vater kann manchmal großzügig sein: Wenn er meiner Mutter hübsche Kleider kauft oder Trinkgelder gibt. Wenn es für ihn ist? Welche Art von Geschäft läuft da eigentlich? Ohne größere Ängste bekomme ich meine Tage, bin endlich mehr als ein Teenager. Die Blicke der Männer ändern sich. Mich erschrickt und schmeichelt, dass ich in neue Spannungsfelder gerate. Ich scheine wie alle Frauen eine Macht zu haben, in der ich mich sehr vorsichtig erprobe. Am liebsten gehe ich mit Klaus, den ich im Schwimmbad kennenlerne, zu Parties auf einem Rheinschiff. Ich rauche mit ihm, wir trinken Bier. Jazz und lange Diskussionen.

Klaus im Schwimmbad

Klaus im Schwimmbad

Klaus ist anders als andere, ich finde: ein anspruchsvoller kluger Mann, liest Nietzsche und Platon und meine Sicht auf die Welt scheint ihm wichtig zu sein. Klaus sieht gut aus. Er ist zehn Jahre älter als ich und wieder ein Arbeiterjunge, ohne Vater. Das Abitur hat er extern nachgemacht, jetzt folg ein Abendstudium, das er mit der Arbeit am Bau finanziert. Als ich in Mathe abzustürzen drohe, schließt er mir dieses Angst besetzte Geheimnis der Mathematik auf. Ich bin berührt und begeistert. Ist Mathe Musik? Im Sommer in Le Lavendou. Ich trage meinen ersten Bikini. Azurblau mit bunten Punkten. Am Strand lerne ich einen Maler mit Bart aus Paris kennen. Der Ältere flirtet mit mir, ich bin neugierig: Am nächsten Tag gehen wir im Pinienwald spazieren. Aufgeregt bin ich, spüre die Spannung. Natürlich küsst er mich heftig, dann wirft er mich auf die vertrockneten, piekigen Piniennadeln und zieht brutal den Bikini runter. Während er schon auf mir liegt, bin ich eigentlich gar nicht da. Ob das Leidenschaft ist? Oben bei den Büschen tauchen Spaziergänger auf, da ist es wieder, das Verbot, das Geheimnis, der Maler lässt von mir ab. Ich geniere mich vor den Spaziergängern, vor diesem Mann, bin verwirrt.

In Le Lavendou (Ferien)

In Le Lavendou (Ferien)

Danach sehe ich ihn nicht wieder. Die Leute am Strand sagen, er sei zurück nach Paris gefahren.

Egal, welche Freunde Clara und ich mitbringen: Mein Vater lehnt sie immer ab. Härte aus Eifersucht? Aber Mutti ist nicht anders. Wenn die beiden jemanden mögen, ihn für uns einladen, ist es ein gut erzogenes Bübchen oder sein weibliches Pendant. Clara und ich verdrehen die Augen und grinsen. Herzklopfen, wenn ich mich in Bücher wie Bonjour Tristesse, Vom Winde verweht und Lolita verkrieche. Darin sind die Menschen irgendwie größer, spannender, rätselhafter, besonders wenn sie ihren eigenen Regeln folgen und auch böse sind. Langsam werde ich kritisch gegenüber jedem, bilde mir viel ein, bin geradezu verächtlich gegen die meisten Lehrer, werde ich in der Schule immer schlechter. Vielleicht intelligent genug, aber unfähig zu Kompromissen, unfähig auch diesen Mist zu lernen oder mich den Erwartungen gemäß zu bemühen.

Mit der evangelischen Kirche, dieser verlogenen Angelegenheit der Unterdrückung, will ich nichts mehr zu tun haben und trete aus. Erstes Petting verlagere ich lieber in ein Auto am Rhein, während die Eltern ahnungslos mit dem Hund spazieren gehen.

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Ich will raus aus dieser Familie und zu anderen Jugendlichen ins Internat. Die Eltern unterstützen mich und suchen: Odenwaldschule, Hahn-Internate. Dann melden sie mich in einem Schweizer Internat in Neuchatel an. Bis meine Kiefern-Zahnärztin von Orgien mit Sportlehrern erzählt. Da ist es aus, meine Eltern ziehen die Anmeldung empört zurück. Mist, ich versinke in still-aggressives Trauern. Von nun an muss ich wieder die unausstehliche Lateinlehrerin hassen. Später, wenn ich groß bin, werde ich sie mit einem Straßenkreuzer tot fahren. Sobald sie ihre stechenden braunen Augen aufgesetzt hat und ahnungslos über die Straße trottet. Ich hasse sie mit konsequenter Verweigerung ihres Lernziels: Ein Jahr vor dem Abi gibt sie trotz meiner gelungenen Aufholjagd per Nachhilfe nicht nach und ich auf.

meine Schulfreundinnen

meine Schulfreundinnen

Nicht nur in Latein, auch ein weiteres Mangelhaft droht. Genervter Abgang als sich dann über viele Jahre wiederholender Albtraum. Ich wollte doch weiter Papis geliebte Tochter spielen. Und auch eigentlich nicht! Ich gerate irgendwie in Zärtlichkeiten mit meiner Schulfreundin, die superhübsch und auch noch, im Gegensatz zu mir, die beste Schülerin weit und breit ist. Wir tasten uns ab, entdecken merkwürdige Gefühle, alles im Dunkeln auf dem Sofa unseres Wohnzimmers. Sowas Verrücktes: Bin ich lesbisch? Aber wieder: großes Schweigen, keinen Mut zu offenen Worten. Und doch auch: Scheiß auf die Autoritäten! Als alles besser wissende Einsame habe ich durch mein vermasseltes Abi einen fetten Kratzer kassiert und sicher eindeutig die Zukunft verschissen. Fürchte ich und tue draußen harmlos. Lachen, freundlich lächeln! Als hoffentlich noch geliebte Tochter versuche ich, mich pflegeleicht zu geben. Aber hinter dieser Maske habe ich Angst vor diesem unterdrückerischen Leben und will wenig mit den Menschen zu tun haben, will auf keinen Fall erwachsen werden. Nie ihre Welt betreten, beschließe ich auf einer Busfahrt zur Schule. Nur wenn ich Künstlerin werde, könnte ich mich in ein Atelier verziehen. Dort mein Ding machen, male ich mir aus. Denn Kunst ist das einzige Schulfach, wo in meinem Zeugnis immer sehr gut steht. Zeichnen, Malen, Objekte, darin kann ich versinken, ich bin dann mal weg und das macht mir inzwischen die größte Freude. Studium in der Folkwang-Schule in Essen? Ich stelle meine Mappe mit Zeichnungen für die Bewerbung zusammen. Mein Vater wiegelt ab. Er hält mich nicht für begabt genug und solchen Wunsch für eine Flause, er prophezeit: Bald wird es Europa geben und Sprachen sind gefragt. So lande ich Anfang der Sechziger Jahre in London und studiere Englisch. Dabei fühle ich mich in meiner bockig-ängstlichen Abwehr weit weg von den Eltern einsam und verloren. Übe aber draußen linkisch große Klappe, bleibe in dieser fremden Weltstadt innen umso mehr verschüchtert, fühle mich noch immer eigenartig verschüttet. Tief in mir rumort etwas, da tut etwas weh.

Meine Londoner Klasse, Lehrer in der Mitte (ein netter), ich erstmals blond gefärbt

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Solch bedrohliche Schmerzen verstecke ich in langen lauten Nächten unter neuen Freunden aus aller Welt. Auch jungen Israelis. Jazz in Soho, Whisky und Zigaretten, dazwischen furchtbares Heimweh. Was soll ich hier? Aber was soll ich auch zuhause? Nichts gefällt mir.  

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