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Christa Ritter's Blog

Marokkanisch sprech ich nicht

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Dünne graue Wolken am Himmel. Ich radle zum Info-Stand der Piraten in der Fußgängerzone. Unter den dichten Plantanen ist der Stand mit der Fahne kaum als orange farbener Klecks zu erkennen. 66992_10201752215424949_1465418612_nDunkelgrau die Stimmung der meisten Fußgänger. Die Piraten dagegen versuchen zu lächeln: Alles wird gut! Fünf Prozent mindestens. Wenn ich aber mit meinem Info-Material die Leute anspreche, heißt es häufig Hab schon gewählt oder  das Gesicht verzieht sich eindeutig in Richtung Nerv mich nicht mit denen. Und dann die vielen Migranten, die noch nicht wählen dürfen. Auch Touristen, die trotz heran ziehendem Regen nicht in ihren Hotels abhängen wollen.  Erste Regentropfen, Schirme werden aufgespannt. Ich fange an zu frieren. Es ist also nicht gerade Wähler-Animations-Vormittag. Als der Regen einfach nicht aufhören will, schwinge ich mich aufs Rad in Richtung Uni. Flyer verteilen – und das geht gut. Selbst wenn nicht alle einen Flyer einstecken wollen, so verziehen sie doch, wenn ich die verquere Partei nenne, nicht das Gesicht. Studenten in München, sie sind einfach nett. Trotz Zimmermisere.

Ziemlich durchnässt komme ich beim Paradiso an, einem türkischen Hairdresser. Elf bis dreizehn Euro der Haarschnitt. Von meiner Squash-Partnerin Christine erprobt und von mir an ihrem Kopf für gut befunden. Der Marokkaner war‘s, hatte sie mir verraten. Ein Mann? Ein Herrenschnitt? Ich weiß nicht, dieses Nackigmachen der vielen Falten in meinem Gesicht… Auf der langen Fensterbank warten nur massige Schwarzhaarköpfe. Türken. Sie ignorieren mich. Der Boss schaut in sein Terminbuch und weist mir mit einer viertel Stunde Warten die Friseurin für Weibliches zu. Unsicher greife ich nach der Gala. Glitzer-Glamour-Menschen. Ich bin unsicher. Altfrauenschnitt? Wollte ich doch nicht. Vielleich kann sie ja mehr. Ich blättere durch die Seiten: Lange blond gefärbte Haare der Model-Mädchen dieser Welt an den Stränden mit Yachten und Palmen. Ich nehme mir mein Herz:  Marokkaner, sage ich entschieden und schaue den Boss an. Ein Aha scheint in seinem Gesicht auf, er verschwindet in einem hinteren Raum. Kurz darauf taucht ein schmaler, kleiner Mann auf, Typus Araber, der Marokkaner sein könnte und lächelt mich aufmunternd an. Take your seat, verstehe ich seine Geste, aber das sagt er natürlich nicht. Ich setze mich angespannt wie steif in den Stuhl. Dieser nette Mensch spricht nur arabisch, nämlich mit einem Haircutter neben uns.  Anderes kennt er nicht. So versuche ich es mit Doof-Deutsch und zeige auf meine Haare und werde schon wieder unsicher. Mir bricht der Schweiß aus: Wenn ich hier mit total verschnittenen Haaren rausgehe, braucht es ein ganzes Jahr, bis… Ich fand mich schon einmal in meinem Leben nach einem Haarschnitt so ätzend grausam verstümmelt, dass ich weinend an den Hauswänden entlang nach Hause schlurfte. Kann der überhaupt schneiden? Ja, ja sagt er. Mir scheint, der kleine Mann ist zuversichtlich. Ritsch-ratsch. Seine Finger sind flink und bewegen sich gekonnt. Also, schneiden kann er irgendwie schon. Aber: Männer! Von Frauen und ihrem Blick auf Schönheit hat der doch gar keine Ahnung, rede ich mit mir. Lass los, sagt jetzt die Stimme, die ich rief, vertraue ihm. Und so versuche ich mich zu beruhigen. Als er mir sein Werk im Spiegel zeigt, muss ich schlucken.  Shortcut 003So kurz hatte ich es mir nicht vorgestellt. Aber niemand im Laden schreit auf, als ich zahle, keiner verfolgt mich mit seinem Blick. Auf der Fensterbank sitzt inzwischen eine ältere Frau, die wartet. Längere Haare, leicht gelockt. Genau! Davon will ich ja mal weg. Okay. Draußen find ich es um den Kopf ziemlich frisch. Ein Haarschnitt für Mützen?  So ist das wohl.

Abends in der Landesgeschäftsstelle der Piraten: Anke und Daniel Domscheit-Berg werden uns hier erzählen, warum es den gläsernen Staat, aber keine gläsernen Bürger geben darf.  Der große Konferenzraum füllt sich, ich sehe viele Piratenfreunde wieder, die in den letzten Wochen mit vollem Einsatz in den Kampf um mindestens 5 % abgetaucht waren. Gute Stimmung. Alle wollen glauben, dass so viel Schweiß nicht umsonst war. So kurz vor der Landtagswahl geht es hier um eins der Kernthemen der Piraten: Die Verteidigung des Netzes, das der Datenklau verseucht. Deshalb sind Anke und Daniel her geflogen, warnen vor dem Staat, der seine Machtlust auf Teufel kommt raus verteidigt und noch dazu behauptet, er täte das zu unserem Schutz. Warum funzt diese NSA-Ungeheuerlichkeit weder mit voller Kraft voraus bei den Piraten, noch bei dem Rest der Deutschen? Warum das große Schweigen statt öffentlicher Empörung? Datenklau und niemand schert’s? Die beiden am Vortragstisch glauben, dass einer der beiden möglichen Gründe sei: Niemand hat bisher die Tragweite des Datenklaus verstanden.  Daniel hat Angst, sagt er, die Freiheit wir beseitigt. Der zweie Grund sei: Absaugen von Daten würde man nicht hautnah merken, zu abstrakt. Dass sich der private Raum durch NSA & Co. auflöst, sei nicht mal durch ein Knacken im Telefon wahrzunehmen. Besonders ignorant sei die junge Generation. Die nur sharen will, egal mit wem. Ganz gegenteilig zu Daniel . Er hätte noch zu den Hackern in den 90ern gehört, den Cyberpunks. Inzwischen grenze sich möglicherweise die Generation danach gegen die Väter ab. Nach dem Motto (Star Trek als Diktatur des Guten): Die Guten gewinnen immer. Aber das tun sie nicht, ruft er in den Raum. Ich denke: Tun sie doch.  Irgendwann fällt das Wort Ethik, die den Akademikern abhanden kam, weil sie sich von den Geheimdiensten kaufen ließen.  Das müssten die Piraten ändern. 1240175_675025769193868_1949908817_nDem Volk klarmachen: Tekkies beauftragen. Das Internet dezentralisieren, US-Monopole wie Google abschaffen, dafür kleine Subversive. Anke betont: Der gläserne Bürger, nein. Der gläserne Staat, ja. Dort die Transparenz erweitern. Indem Spendengelder, Sponsoring veröffentlicht wird. Lobbyisten werden öffentlich, weniger Korruption. Durch Transparenz mehr demokratische Beteiligung, Austausch von Infos zwischen Städten und Gemeinden. I like Rostock, versichert sie. Ich denke: Transparenz für alle ist doch die eigentliche Forderung der Piraten, ihre Vision der Welt. Die die Bürger anfangs kauften und sie in vier Landtage wählten. Und nun fallen die Piraten zurück und schließen den Staat aus. Kapier ich nicht. Was ich dort etwas unklar sage: Die Menschen verabschieden sich langsam von autoritären Strukturen, suchen mehr Miteinander, eine fortgeschrittene Demokratie. Im Rückschritt der Piraten können sie sich nicht sehen. Deshalb entfacht der Überwachungsstaat keine wirklichen Feuer bei seinen Untertanen. Die sind schon weiter, weiter vielleicht als die Piraten. Talk 2 016Daniel fasst zum Abschluss zusammen: Wir sind der Souverän, er dient uns, nicht umgekehrt.  Das hätten wohl die Abgeordneten vergessen. Ahoi! Mich wundert es, dass hier der Staat als so bedrohlich hoch geschraubt wird. Diese Machtmenschen. Okay, das sind sie. Aber bauen nicht auch die etwas ab und jeder verschiebt sich in Richtung Menschlichkeit? Sollte ich ihnen nicht glauben? Nur eine Wahlmasche, das mit Mutti und freundlichen Besuchen  in Redaktionen und Schrebergärten? Vielleicht sind wir Wähler/User doch längst selbstbewusster, gerade die Jungen. Sie verschenken tatsächlich ihre Daten gerne, egal an wen. Kein bisschen Krieg, denn sie fürchten sich nicht. Alle irgendwie Snowdons? Ich habe dann noch mit dem ein oder anderen ein wenig geredet. Oh Haare ab, sieht gut aus. Mit Rani, der netten Inderin aus Kerala, die vom Netz seit den Anfängen ergriffen ist, hab ich mich verabredet. Ali will eine Doku über junge Ausländer in deutschen Fußballvereinen drehen. Ich seh ihn auf der Wahlparty am Sonntag wieder. Auch Holger, Kathrin, Wolfgang. Der anschließende Fahrrad-Ritt durch den stockdunklen Park ist nicht ohne. Mein Vorderlicht ist kaputt und ich sehe nichts. Bis der Halbmond auftaucht. Immerhin.

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