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Christa Ritter's Blog

Frage die Eule

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Auf der gestrigen Wahlparty der Piraten im Geierwally war bei nicht wenigen die Luft raus. Ich bin sauer. So geht das nicht weiter, sah mich ein verknittertes Gesicht an. Fast alle hatten einen enormen persönlichen Einsatz geleistet. Die Meisten waren also eher erschöpft als traurig und hatten sich nach den ersten Hochrechnungen schnell auf die Seite derer geschlagen, die sowieso noch den kräftigen Wind im Bundestag scheut und lieber Bewegung als Partei spielt. Ich kann sie gut verstehen. Okay, die Strukturen fehlen, beflügelnde Ideen, ja und vor allem, finde ich, fehlt die Vision. Die Vision hinter der Technik, nach der sich vermutlich die analogen Deutschen sehnten, als sie anfangs die Piraten mit offener Sympathie unterstützten. Ich glaube nämlich, dass hinter den langweiligen, zum Teil sogar belanglosen politischen Themen dieses Wahlkampfs, den ewigen Sprechblasen, längst eine andere Lebenspraxis auch bei den Politikern, wie natürlich ihren Wählern geübt wird. Das ist nur niemandem bewusst. Vereinzelten vielleicht am Rand der Gesellschaft, kaum aber im Mainstream. a40e27a8140c11e3bfc922000a9e08f9_7Doch am schnellen Anfangserfolg der Piraten könnte ich sehen, dass eine  Sehnsucht, ein Bedürfnis heranwächst, das mit der Schaumschlägerei der klassischen Parteien nicht mehr gedeckt wird. Überall verändert sich unser Leben, weil sich unsere Bedürfnisse verändern. Die Kleinfamilie löst sich in unterschiedlichste Beziehungsformen auf. Wir sind tendenziell sogar immer mehr bereit, von unserem Wohlstand abzugeben. Dafür müssten die richtigen Bilder gefunden werden. Wer möchte heute noch ein Ausbeuter sein? Wer ein Unterdrücker? 1004919_471206499642846_1282448188_nWir sind also schon alle demokratischer unterwegs, suchen letztlich die gleiche Augenhöhe unter den Geschlechtern (post-gender!) wie zwischen Erwachsenen und Kindern, wie zwischen Erster und Dritter Welt. Ich empfinde es so, dass wir alle, jeder seinen persönlichen Möglichkeiten entsprechend, wachsen will. Jeder versucht sich zu optimieren, will ein besserer Mensch werden, mit sich und den anderen im Einklang sein. Auch mit der Natur. Oft wird nach dem Glück gefragt. Was ist Glück? Warum wünschen wir es uns? Wie jeder für sich solche utopischen Aufgaben bewerkstelligt, auf diesem steinigen Weg sind wir. Nicht einfach und heftige Krisen beuteln uns und diese Gesellschaft. Man sieht den Bedarf nach einem guten Leben vielerorts: Workouts, Therapeuten, Ratgeberbücher, Depressionen, Burn Outs. Die alte materialistische Kampfgesellschaft mit ihren bürgerlichen Werten, die auf Konkurrenz und Gewalt basierte, verabschiedet sich. Gott sei Dank. Meine Generation ist für diese Vision einer gerechteren Welt 1968 sehr hoch geflogen und danach schwer abgestürzt. Niemand wusste, dass das strahlende Licht einer neuen Welt auch tiefe Schatten wirft. Solch ein enormer Wandel geschieht also nicht von heute auf morgen. Man muss ihn, so scheint es, mühsam und sehr langsam erringen. Immerhin: Die Grünen transformierten Anfang der Eighties einen Teil der 68er Vision in zunächst eine Bewegung, woraus später eine Partei wurde. Und nun könnten die Piraten dran sein, wenn sie sich denn zwei ihrer Mängel bewusst würden. Den ersten sehe ich darin, dass sie sich dem wachsenden Stream of Consciousness unserer sich virtualisierenden Welt verschließen, indem sie sich nicht selbstbewusst historisch verorten. Als jüngste Bewegung einer Vermenschlichung, die erst 68 begann und mit den Grünen fortgesetzt wurde. Der zweite Mangel könnte sein, dass sie ihre Herkunft nicht utopisch vertreten. Als Ausgangspunkt aller Politik, die sie erarbeiten. Ich habe weitgehend analog gelebt, sie aber kommen aus der Netzbewegung, sind die ersten Aliens: Netizens, deren Heimat eher dieser neue, für die meisten Menschen noch unverständliche virtuellere Raum des Internets ist. Der aber unser Leben jetzt schon extremer verändert, als wir wahrnehmen können. Dieser Raum ist kommunikativer, basiert auf Gleichen. Hier passiert unter uns derzeit ein Bewusstseinswandel, wächst ein veränderter Blick auf alles. Wie sieht die Utopie dahinter aus? Welche Erfahrung motiviert die Netizens und welche Politik ließe sich davon ableiten? final_abendmal_flügelWir analogen Bürger sind ja nicht davon unbeleckt. Auf unsere Weise sind wir auch längst auf dem Trip der Vermenschlichung, siehe oben. Ich könnte mir vorstellen, dass in diesem längst laufenden Paradigmenwechsel der Grund zu finden ist, warum sich die Menschen nicht über NSA & Co. aufregen.  Sie sind vielleicht längst viel freundlicher unterwegs, als unsere kriegerische Seite erkennen kann: Alles teilen, alles mitteilen, sharen, Transparenz. Nachrichtendienste: ein Auslaufmodell. Wir kennen diese neuen Begriffe erweiterter Kommunikation und trotzdem ist kaum jemandem klar, welche wachsende Qualität in uns diese Bedürfnisse entwickelt. Die Deutschen haben, so vermute ich, von den Piraten vor zwei Jahren dieses Update auf eine schwindende Weltsicht mit veralteter, die Welt und die Menschen krank machender Politik erwartet. Die Piraten waren noch nicht so weit und konnten nicht liefern. Entweder öffnen sie sich nach der Niederlage von 2 % der Suche nach einer durch das Netz bestimmten, historischen Vision und öffnen sich dem Teilen mit allen. Oder sie fallen zurück und eine neue Bewegung übernimmt. Denn die jüngere Generation lebt schon frischer als die Technik-Piraten. Die Zeit rennt also. Ganz praktisch gesprochen könnte ich mir vorstellen, dass sich die Piraten, wenn sie sich aufraffen wollen,  mit denkend-spinnenden Köpfen und Technikern zusammensetzen, um die Vision ins Bewusstsein zu denken und formulieren und sie dann in ein einfaches, Spaß machendes Tool übersetzen. Ein Tool, das jeden zum Mitmachen an der Gestaltung einer neuen Politik einlädt. Wie Facebook zum Beispiel. Dann könnte ich, bisher ziemlich widerständlerisch in Sache Technik unterwegs, mich auch einklinken. SurfenDie Piraten sollten also eine Visions-AG gründen, die Mut zur Bewusstmachung der von ihrer Heimat des Netzes abgeleiteten, völlig neuen Menschen- und Weltbildern hat und die nötigen Mitstreiter dafür einladen.

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