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Christa Ritter's Blog

Die Quarantäne macht uns nackt

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Kleiner Bericht aus der Quarantäne. Alles anders? Ein Freund (35) verdichtet sein Gaming, macht Home-Office und widmet sich ausführlich seiner neuen Freundin. „Sie ist sehr nett“, sagt er, „mir geht’s gut“. Ein Freund (62) ist auch im Home-Office. Das findet aber seit 6 Wochen nicht mitten am Glockenbach, seiner Stadtwohnung statt, sondern im Haus am See. Mit Studenten-Söhnen und Freundin. Viel gut kochen, also essen und noch mehr trinken (Alkohol). „Ich werde eher dicker, aber ich genieße die Ruhe.“ Nicht zu vergessen: jeden Morgen joggen, auch einen neuen Wirlpool einarbeiten. Auch mein Autisten-Freund (58) hielt es in München nicht aus und floh in seine größere Wohnung im Schwarzwald. Von der Terrasse aus mit Aussicht, tatsächlich, in Bäume. Er hat nach wie vor Mühe, sich zu entspannen. Beschäftigung: Schlafen, Fahrradfahren durch die Hügellandschaft. „Bin immer noch ständig unter Druck. Erbkram von meiner Mutter abarbeiten.“
Und die Frauen in meiner Nähe? Eine (70) ist rigoros. Mit Mundschutz nur zum Einkaufen und im Park unterwegs. Telefonieren, allein Filme schauen. „Meine Katze dreht auch bald durch,“ berichtet sie, halbwegs fröhlich. Eigentlich lebe sie ja schon lange zurückgezogen. Eine andere Freundin (53) mit Ehemann ist sonst eher rührig, nun aber völlig abgetaucht. Höchstens Emojis erreichen mich. Sie lebt! Eine jüngere Freundin (37) mit Hund floh schon vor Wochen zu Mutti und Papi an die Mosel. Home-Office von dort aus. Sie räumt auch noch das Elternhaus auf. „Erstaunlich, was ich hier alles entdecke. Die Macken vererben sich.“ Innenschau im Familien-Wahnsinn.
Alle „erfahren“ noch, brauchen Zeit, bisher kaum was verdaut.
Und ich? Schon in der ersten Woche spürte ich deutlich, was mich vorher verspannte. Trotz 40 Jahre „Quarantäne“, also ähnlich wie jetzt zu leben, bin ich aus meinem Zwanghaften noch nicht raus. In mir steckt: Ich muss heute dies, morgen erwartet mich das, du bist nicht gut genug, die andere hat mehr. Und so weiter, das Ego, dieser Hund. Zu wenig meditiert? Deutlich wurde mir dieses Elend, weil ich per Corona, sozusagen im Kollektiv, doch plötzlich davon etwas freier wurde. Eine Pandemie als Meditation der Welt? Hatten mich leere Straßen, verblasster Lärm, frischere Luft in eine seltene Entspannung versetzt, die ich also sonst noch nicht eroberte? Höchstens mal in seltenen Ausnahmen, in den Bergen, am Meer? Leider könnte es damit viel zu schnell, vor wirklichem Be-Greifen vorbei sein. Heute, schon sechs Wochen später, donnern über meine Kreuzung wieder stinkende Autos, sind die zwitschernden Vögel kaum noch zu hören, wird die Luft nur noch durch einen kurzen Regen wieder klar. Zurück in den Wahnsinn?
Aus meiner Quarantäne ein kleiner Höhepunkt. Ich (77) hatte einen heftigen Fight mit einer Freundin (70), die ich schon sehr lange kenne. Eigentlich nichts wirklich Neues: Zumutungen halten unsere Freundschaft offen und spannend. Doch wir hatten uns zuletzt vielleicht einseitig eingerichtet. Harmonie-Getue unter Frauen. Nun aber attackierte sie/ich (sich/mich?) aus Verzweiflung. Ihre Wut: Warum hatte sie in ihrem Leben, in dieser hektischen, patriarchal-aggressiv gesteuerten Welt nie den Erfolg, ein kapitales Standing, um heute gelassen auf die jungen Frauen zu schauen, die inzwischen, von der Männerwelt gefeatured, überall in den Medien zu sehen sind? „Ich habe mein Leben vergeigt!“ schrie sie. Ich schrie mit Volldampf zurück. Weil ich diese Stimme nur zu gut von mir kenne: Das Leben vorbei, alles Scheiße gewesen, diese Jahrzehnte des Rückzugs, neu-familiäre Versuche als „verrückte“ Einzelne. Die also (scheinbar!) nicht wirklich rausfinden, aus der Gewalt des Alltags. Adam und Eva forever? „Wir mussten da raus, wollten eigentlich nie rein und jetzt das Erarbeitete bedauern?“ schrie ich zurück, „da wären wir ja verrückt“. Schau dir lieber an, was du stattdessen gemacht hast, flüsterte ich mehr zu mir selbst. Diese falsche Brille des „Normalen“, halt sie nicht fest, wirf sie endlich ab! Oder heute wieder mal ein Stückchen. Aber noch waren wir, war die Freundin nicht aufzuhalten. Die Wut muss raus, sie darf es! „Es ist etwas anderes entstanden, etwas, das sich bisher verborgen hält,“ versuche ich es mit Vernunft. Die Freundin hört nicht auf, hört weiter nur noch Endzeit. Genau, denke ich, hör in ihr dir zu. Denn diese Seite singt auch in mir ständig Endzeit. Obwohl ich doch, nicht unerheblich, ein wenig in der Neuzeit schon gelandet bin. Frauen auf dem Weg. Endlich! Wir bleiben dran und werden sehen. Schönen Sonntag, noch.

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