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Christa Ritter's Blog

Die Reise des Schmetterlings

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Friseure in Quarantäne, meine Haare zu lang. Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich selbst mit der Schere ritsch-ratsch endlich aktiv wurde. Eine selbst designte Frisur entstand, mit der ich mich irgendwie bei mir fühle. Nun denke ich nach: Nur ein kleiner Akt gegen meine Vaterprägung, aber doch ein Mini-Schritt von Selbstbestimmung? Noch ist mir eher selten bewusst, was aus mir selbst, meinem tiefsten Kern, meinem authentisch Inneren heraus getan/gedacht/bestimmt wird. Dass ich wenigstens einen Millimeter lang nicht dem normalen, genormten Programm folge, dem Patriarchat, mich stattdessen selbst überrasche. Ein ganz besonderes Gefühl seltener Intimität mit mir selbst. Vor langer Zeit las ich einmal über die Künstlerin Louise Bourgeois, dass sie erst in ziemlich hohem Alter so weit war, sich in ihren Objekten urgrundmäßig selbst zu erfinden. Erlösung vom Vater, nannte sie das. Das hat mich berührt: War ich nicht auch auf diesem Weg?
Weißt du überhaupt, was mit dir los ist, wer eigentlich durch dich die ganze Zeit spricht? Wer bist du? So ähnlich. Bisher sehe ich kaum Frauen, die schon authentisch für sich auftreten. Mit eigener Stimme. Es ist die patriarchale Matrix, aus der sie erfolgreich sind: Wissenschaftlerinnen, Ehefrauen, Moderatorinnen, selbst noch die jungen Influenzerinnen sind erfolgreich mit Hilfe des alten weißen Mannes. Denn sie sind nach wie vor Partnerinnen des Patriarchats, das durch das Virus gerade gegen die Wand zu fahren scheint. Einem toxischen System, das Eva mit Adam verabredete und das die Frau bis Ende des 19. Jahrhunderts zu ihrem eigenen Glück gerne mittrug. In seinem Schatten ging es ihr so gut, dass sie den Vertrag einhielt. Das änderte sich, wie wir wissen, mit der ersten Frauenbewegung. There’s a crack in everything, that’s where the light comes in (Leonard Cohen). Frauen wollten von damals an auch auf die Reise gehen: Sich sehr vorsichtig verbessern, vielleicht sogar die Welt, irgendwann Mensch werden. Eine lange Reise der ständigen Evolution für beide.
Seitdem immer wieder kleine Backlashs, scheinbar, dann wieder Schübe. 68 war ein wesentlicher, rätselhaft und verschwommen, auch für mich. Im frauenbewegten Backlash versank ich opfermäßig. Deshalb dann dank meiner versteckten Verzweiflung der entschiedene, weil bewusste Schub: Harem mit den Frauen und Rainer. Raus aus dem Opfer, meiner tief sitzenden Verneinung, etwas Negativem: Ausdrückliche Kündigung der patriarchalen Matrix, von genormter Ehe und Sex-Deals, landläufige Karriere in eine Art Selbsteroberung. Irgendwie ein tolles wie beängstigendes Gefühl von: Freier Flug ins Nichts! Meine zwanghafte Vaterprägung als Verneinung würde ich aufdröseln, auch die der Mutter. Seitdem eine unglaubliche Reise, zwischen Zweifel und Momenten der Euphorie: Kleinstschritte in dieses Unbekannte, begleitet von Gejammer und Ungeduld. Und doch: Irgendwie ist diese Reise ins Unbekannte zwar mühsam, doch irgendwie ziemlich großartig! Siehe mein eigener Haarschnitt. Selbst erfunden, gefühlt, aus tieferem Grund. Dann heute wieder Downfall: Meine nur scheinbar unbezwingbare patriarchale (von Mutter und Vater) Sperre kommt mir ätzend in die Wege: Ich krieg meinen YouTube-Account der über 100 gesammelten Videos nicht hin. Obwohl bestens angeleitet. Widerstand, Angst vor dem Neuen, Angst vor Unfähigkeit und schon bin ich auch unfähig. Zurück zur unmündigen Frau. Scheiße. Wie ihr von euch vermutlich kennt: Ich taumele im Zwiespalt. Und das ist gut so. Denn die Reise geht ja weiter, noch im eher Verborgenen, vermutlich ähnlich wie bei Louise Bourgeois.
Frauen sind bisher „sprachlos“, kennen sich nur als Schatten des Mannes. Liebt er mich? Grauenhaft? Nicht ganz: Denn jede ist auf ihre Weise „irritiert“ und fängt irgendwann an. Aber Feminismus ist nur eine Vorstufe, so meine Erfahrung. Es folgt das Wesentliche: Das Privileg „Weib“/“Mutter“ usw. aufzugeben, das dunkle Weibliche zu konfrontieren. Aus der Frauen-Identität einer Eva zu „sterben“. Noch weiß ich wenig davon, aus welcher Freiheit ich leben könnte. Als Frau ein geistiger Mensch werden? Klingt verrückt und ist es irgendwie auch. Doch unbewusst haben längst alle den Vertrag des Patriarchats gekündigt? Corona könnte diese Reise mit einem kräftigen Schub weiter vorantreiben.

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