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Christa Ritter's Blog

Olga’s Himmelfahrt

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Gerade entschlacke ich meine Wohnung, vor allem den Keller. So fand ich auch zwei Fotos von Olga, der schönen Russin, die ich mit Anna, Brigitte und Rainer 1996 in Mailand traf. Weil mir ihr Buch über ihren Trip zu einer Schamanin als Anstoß ihrer irrationalen Seite so gefallen hatte.  Es hatte die Schamanin in mir aktiviert. Eigentlich wollte Focus meine Geschichte drucken, aber da stand der liebe Stefan Paetow vor. Schamanistisches erschien der Politmänner-Redaktion zu jener Zeit als etwas abseitig. Ein Problem, das wir Haremsfrauen auf unserem Weg immer wieder hatten. So, und nun eben viele Jahre später und trotzdem für euch vielleicht noch interessant: Von meinem Treffen mit der ersten Russin, die berichtete, wie sie sich aus dem alten Leben davonmacht.

Mit Wir sind alle virtuelle Surfer und einem rätselhaften Lächeln hatte mich in München ein Freund verabschiedet. Jetzt glitt ich in meinem gleichmäßig schnurrenden Automobil über den Brenner, fuhr durch nebelverhangene Berge und tauchte endlich ein in sonniges Terracotta und erste Palmen, während in meinem Kopf der Abschiedssatz rumorte. Er löste genau die Fragen aus, die eigentlich der Grund dieser Reise waren: Ist das Leben real oder nur eine Projektion? Ist vielleicht sogar der Traum realer? Würde Olga, diese erste Russin, die über eigene Erfahrungen berichtet, mir dazu etwas sagen können? Auf dem Foto der Rückseite ihres Buches Das weiße Land der Seele sah diese Frau geheimnisvoll schön aus, hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit allen Klischees, die sich über die Russen schon während des Kalten Krieges in meinem Kopf angesammelt und nach Absturz der zweiten Weltmacht durch Bilder unbezahlter Arbeiter, hungernder Soldaten und einem etwas debil grinsenden Boris verdichtet hatten. Wie es diesen Menschen nach ihrem Sturz aus der Weltmacht wirklich geht, wie es in ihnen aussieht, davon hatte bisher niemand erzählt. Entsprechend fasziniert fraß ich Olga Kharitidi´s Buch über eine ungewollte Reise, die den Blick dieser hervorragend geschulten Wissenschaftlerin und Psychiaterin auf das Leben so grundsätzlich veränderte.

Mailand. Rasende Autos, Hupen, freche Blicke: dieser Spaß schleudert mich schnell hinein mitten ins alte Zentrum der Stadt. Olga wohnt am Ende ihrer Promotion-Tour durch die halbe Welt ausgerechnet stalinistisch: Zuckerbäckerstil mit rosa Stofftapeten, viel Marmor, Säulen, majestätisch. Das Foto lügt nicht. Mir steht keine stramme Genossin, sondern eine außergewöhnliche Frau gegenüber: luftiger Kopf, klare grüne Augen, weizenblondes Haar – eine irritierende Sicherheit im Blick. Gesten, Schulterdreh, Kopfhaltung eines Wesens ein bißchen wie vom anderen Stern. Antike Ohrringe, eine orientalisch-anmutende Kette, langer schwarzer Samtmantel.

Olga

Foto: Anna Werner

Olga entschuldigt sich selbstbewußt. Jetzt, am Ende der Promotion-Tour, sei sie vom Heimweh angenagt, sitze gedanklich bereits im Flugzeug nachhause. Rechnet man die US-Tour dazu, hat sie ihren Ehemann, Russe griechischer Abstammung, und die kleine Tochter, mit denen sie seit vier Jahren in Albuquerque/Neumexiko wohnt, seit Monaten nicht mehr gesehen. Mit häufigen Telefongesprächen versuchte sie die Trennung zu überbrücken, den verwirrenden Eindruck von vielen neuen Menschen, Fragen, dieser fremden Kultur ein wenig auszugleichen. Olga stönt, aber ihre Augen lachen: „Es war anstrengend und gleichzeitig wunderbar. Ich kannte Europa und die Europäer noch nicht, reiste hier auf gewisse Weise wieder in unbekannte Welten…“

Rückblende: Herbst ´89, Nowosibirsk. Olga ist mit 26 die jüngste Psychiaterin der Neurologischen Klinik. Wie alle anderen fühlt sie eine zunehmende Unruhe: Die abstürzende Weltmacht kollabiert, das Leben scheint sich nach innen zu verziehen. Vor allem die Menschen der größeren Städte erfaßt bereits eine schleichende Depression. Es dauert daher nicht lang und die Klinik ist überbelegt. Verstörte Soldaten, verhinderte Selbstmörder, Schizophrene und ein Ende ist nicht abzusehen. Olga gehört als Psychiaterin zur privilegierten Kaste der Intelligenzia. Ihr Stolz, der großartigen Kultur einer kommunistischen Weltmacht anzugehören, sitzt tief und scheint ungebrochen. Doch manchmal bemerkt sie etwas Eigenartiges: Immer häufiger hat sie das Gefühl, aus ihr schaut eine andere Frau in die Welt. Sie schläft zunehmend schlechter, hat nachts oft Alpträume. In ihr macht sich das beunruhigende Gefühl breit, die Patienten immer seltener zu erreichen. Entsprechend steigt ihr Stresspegel. Als plötzlich eine Patientin stirbt, die sie besonders mochte und bald entlassen wollte, will Olga nur noch verschwinden, Ferien machen, alles vergessen, ans Schwarze Meer fliegen. Abends ruft Anna, eine befreundete Ärztin an. Sie sei krank und verzweifelt, weil sie schon alles probiert hätte. Nichts half, sie werde die Krankheit einfach nicht los. Was tun? Das, was sie früher nie wollte: Ob Olga nicht zu einer Schamanin mitfahren würde? So sitzt Olga ein paar Tage später statt am sonnigen Strand auf einer harten Holzbank im ungeheizten Zug auf dem Weg ans Ende der Welt.

Nach langem Fußmarsch durch Schnee und Eis erreichen die Freundinnen endlich den kleinen Ort im Altai-Gebirge, unweit der Grenze zu China und der Mongolei. Anna geht ihrer Wege, Olga zieht es merkwürdig entschieden zu einer Hütte am Ende der Siedlung. Durch die verschlossene Holztür dringt eine tiefe Stimme: „Was willst du?“ Zur eigenen Überraschung hört sich Olga antworten: „Ich will von dir heilen lernen.“ Eh sie sich versieht, sitzt sie im Dämmerlicht einer niedrigen Wohnküche, vor sich ein fast durchsichtiges Wesen, das leise beschwörend murmelt und fleht. Dabei schlägt es für die auf dem Boden kauernde Patientin, eine kleine dicke Frau, die Trommel. Mal springt jetzt das Wesen nach vorn, mal verschwindet es in der Tiefe des Raumes oder schwebt oben unter der Decke. Wie aus der Ferne schepperndes Lachen schemenhafter Schatten, die sich im Rhythmus der Trommel bewegen. Dumm-da, dumm. Tadak-ta, tadak-tadak. In welchen Film ist sie geraten? Das Wesen zaubert von Nirgendwo eine Flasche Wodka, setzt sie an den Mund und trinkt sie in einem Zug aus. Olga beobachtet staunend, wie sich der Körper aufbläht, anfüllt, das Wesen laut rülpst, stöhnt und plötzlich zusammenfällt, dabei die Augen verdreht und leise flüsternd ein paar Schritte torkelt. Die Schamanin kreist einladend mit der Hüfte. Plötzlich reißt sie die Augen weit auf. Ihr Blick trifft die Patientin – glasklar. Olga fühlt, wie die Schamanin in den Körper dieser Frau kriecht, sich dort wälzt, dehnt, geradezu ausbreitet. Aber es ist Olga, die husten muß, röchelt, zu ersticken droht. Panik. Nicht krampfen! Ihr Blick sucht die Vögel auf der geschnitzten Trommel: Sie scheinen sich plötzlich zu bewegen, schwimmen zum Rand, fließen weiter in die Holzbretter, fliegen davon. Die Trommel dröhnt immer lauter. Oder ist es ihr Puls, das Herz, die Knochen? Eine Tür knarrt, die Luft bewegt sich. Vor wievielen Stunden hatte sie diese Küche betreten? Langsam wird es hell im Raum. Ein milchiges Licht, angenehm warm. Olga atmet ruhiger, kann sich ein wenig entspannen. Sie sieht die Schamanin vor sich auf einer Pritsche sitzen: Ein Koloß und doch extrem beweglich. Zauberin, Königin, Göttin. Diese Frau starrt Olga unverwandt an. Es ist Liebe auf den zweiten Blick. Olga’s Gehirn explodiert. Zwei unendliche Tage fliegt sie mit Umai, der Schamanin durch phantastische, bedrohliche und vertraute Universen. Und als könnte sie mit dieser Liebe die Verbannung der Seele durch die Revolution endlich auflösen, versucht sie den Körper im Flug wieder durchlässiger zu machen. Nur Traumwelten?

Olga 2

Foto: Anna Werner

Wir haben die Altstadt hinter uns gelassen, laufen inzwischen durch den alten Park hinter dem Mailänder Kunstmuseum. Die Strahlen der Frühlingssonne haben die ersten Blüten der Magnolienbäume geöffnet. Was sind Schamanen? Sind sie als Therapeuten für uns moderne Neurotiker nicht etwas zu abgedreht? Olga lacht: „Zu primitiv? So dachte man in der offiziellen UdSSR auch. Und das Wort spirituell durfte niemand laut sagen.“ Dabei habe Rußland eine lange spirituelle Geschichte. Mircea Eliade, vielleicht der Vater aller Ethnologen, schrieb, die Wiege des Schamanismus, einer Art Urreligion und daher Wurzel der Spiritualität, läge in Sibirien. Dort leben noch heute verschiedene asiatische Urvölker und -Stämme, zum Teil als Nomaden. Sie sind, sagt Olga, die russischen Indianer: Der Zar und später Stalin & Co. hätten versucht, sie mit brutaler Gewalt aus ihrer Primitivität in das 20. Jahrhundert zu reißen. Ohne Erfolg. „Vor allem ihre Schamanen wurden von den Architekten einer neuen Welt gnadenlos verfolgt und oft umgebracht, weil sie als die Seelenhirten des Stammes Macht ausübten, indem sie sich um die innere Hygiene der Menschen kümmerten und so den sozialen Zusammenhalt garantierten.“ Sie waren aus Sicht der Erneuerer Ungläubige, die den Weg in die Zivilisation blockieren. „Sie konnte in ihnen nur rückständige Wilde sehen, die man bestenfalls gewaltsam zivilisiert.“ Olga dachte über diese einfachen Menschen nicht anders, als sie damals ins Altai-Gebirge fuhr. „Heute weiß ich, daß sie zwar über Geld, Fabriken und Geschäfte nichts wissen, dafür umso mehr über die Psyche.“ Dagegen seien moderne Psychiater reinste Dilettanten. „Schamanen sind auf andere Art rational. Denn ihr Blick ist nach innen gerichtet, während wir nach außen schauen. Ohne ihre Art der Rationalität hätten sie aber nie diese kargen Weiten überlebt.“ Olga nachdenklich: „Sie leben eben nicht für äußere Macht und Reichtum, sondern kümmern sich um die innere Gesundheit, rücken immer wieder die Psyche des Stammes zurecht, wenn dort etwas aus der Ballance geraten ist. Ich nenne sie deshalb lieber Sozialarbeiter. Man ruft sie nämlich zum Beispiel bei Krankheit, auch begleiten sie die Sterbenden hinüber in die Traumwelt, segnen eine Hochzeit, aber ebenso eine Viehweide.“ Die systematische Vernichtung der Schamanen sei in Russland natürlich noch kein öffntliches Thema, wäre bis heute geradezu ein Tabu. „Daß Mütterchen Rußland eine Schamanin ist und auch Stalin einen Rasputin hatte, darf man noch nicht laut sagen.“

Olga überlegt: „Die Menschen suchten damals eine neue Gleichung für ihr Leben. Vielleicht mußten sie deshalb die Innenwelt vergessen und den Blick nach außen erzwingen – eine gewaltige Leistung. Jetzt scheint es uns umgekehrt zu gehen: Die Einseitigkeit des Sowjetsystems mit seiner Fixierung auf das Materielle ist für uns zu eng geworden. Wir sind deshalb alle krank.“ Erste Zeichen dieser Not spürte Olga schon als Jugendliche. Sie war so depressiv, daß sie unbedingt Psychiaterin werden wollte. Olga stammt aus einer Familie mit entsprechender Bilderbuch-Geschichte: Ihr Ur-Großvater war Arzt in der Zarenarmee und mit seiner Empörung über die schlechten Zustände, unter denen die Soldaten leiden mußten, seiner Zeit voraus. Das brachte ihm die Verbannung nach Sibirien ein. Der Großvater, Arzt für einen großen Industriekonzern, beschwerte sich unter Stalin über das unwürdige Leben der Arbeiter. Er wurde 20 Jahre lang in den Gulag gepfercht. Später waren auch Olga´s Eltern Ärzte. „Aber sie glaubten schon nicht mehr an die ideologische Peitsche zum besseren Menschen und schwiegen resigniert.“

Zurück zu Umai, der Schamanin. Sie hat damals tatsächlich die Freundin geheilt. Olga dagegen saß während der Rückfahrt verwirrt grübelnd im Zug. Was war passiert? Hatte sie den Kosmos vergessener innerer Landschaften wiedergesehen? Hatte sie das Unbewußte bereist, seine Ozeane und Kontinente? Was sonst könnten die Bilder bedeuteten? Sie beschloß, offen zu bleiben und sich selbst weiter neugierig zu beobachten. Als sie am nächsten Tag wieder durch die alten Korridore der Klinik ging, wurde ihr langsam klar, sie war jetzt eine andere. Nur wer? Olga begann im Kopf eigenartige Filme von bestechender Einfachheit und Komplexität zugleich zu sehen. Ihr wurden dabei oft ganz plötzlich die kompliziertesten Zusammenhänge wie selbstverständliche tiefe Ordnungen deutlich. Gezielte Infos der Freunde aus anderen Welten schienen sie immer wieder anzufunken. Sobald Olga draußen die Angst zu überrumpeln drohte, versuchte sie nach innen zu schauen und sich zu vergewissern. Sie wurde dann meist schnell wieder ruhig und zuversichtlich: Olga war weder zu einer Wilden regrediert noch esoterisch durchgeknallt oder einfach verrückt geworden. Langsam und vertrauensvoll ließ sie die Botschaften der anderen Art deshalb auf sich wirken, fing sogar vorsichtig an, sie mehr und mehr in ihr tägliches Leben einzubauen. Ihr Mut wurde größer. Olga kombinierte für die Patienten ihr Schulwissen mehr und mehr mit dem Neuen. Zur Tarnung gab sie ihren Methoden lateinische Phantasienamen. Die Wirkung war gut. Ihre Patienten lebten geradezu auf. „Ich war für sie jetzt nicht mehr eine von draußen. Ich war drin.“ Und ihre Kollegen staunten.

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Olga’s Suche nach den Traumwelten ging weiter. Sie interessierte sich bald für heiligere Orte und fuhr nach Usbekistan und Kasachstan. „Ich dachte, wo der Atompilz leuchtet, ist auch ein anderes Licht besonders hell. “ Sie traf auch dort Schamanen, die allerdings ihre Landkarten bereits mit denen der Sufi-Lehrer verglichen . „Mir kam das vor, als wäre ich in die nächste Klasse versetzt und ich jubelte. Was ich dort lernen durfte, gehört inzwischen zu meinen täglichen Übungen: Tänze, Gebete, Trance-Methoden…“ Genaueres will sie darüber erstmal nicht erzählen. Aber ihr zweites Buch wird davon handeln: The Master of Lucid Dreams (Der Meister der Klarträume), das Ende des Jahres in den USA erscheint.

Zurück aus den Weiten Kasachstans setzte sie ihre neuen Kenntnisse auch in die Arbeit mit ihrem Mann, einem Anwalt, und seine Vermittlertätigkeit in sibirischen Ölgeschäften und Joint Venture-Deals mit amerikanischen Investoren ein: „Mein Wissen von der Psyche war jetzt so groß, daß ich unsere Auftraggeber durch alle Klippen der Verhandlungen bis zum Vertragsabschluß lenken konnte. Innere Landkarten und äußere Geschäfte laufen nämlich hervorragend zusammen.“ Einige Multi-Millionen-Verhandlungen ihres Mannes hat Olga so beraten. „Ich konnte ihm helfen und das hat mir gefallen.“ Olga nachdrücklich: “ Ich bin nämlich eine Frau, die für ihren Mann alles tut, ihm absolut folgt.“ Und mit einem Augenzwinkern: „Er würde nie mir folgen.“ Sie führe keine normale westliche Ehe : „So einen Sozialvertrag könnte ich nie einhalten. Keine Romantik…“ Olga schüttelt energisch den Kopf: „Mein Mann und ich sind vor allem geistige Partner, die einander bei der gegenseitigen Entwicklung helfen. Ich glaube, ich kann mir sicher sein, er unterstützt mich darin 100%ig.“ So seien sie auch seit Anfang der Neunziger gemeinsam häufg nach Amerika gereist. „In manchem sind die Menschen dort doch sehr ähnlich wie in unserem Sowjetsystem. Sie sehen ihr Leben rein materialistisch. Nur daher beziehen sie ihre Identität.“ Entsprechend unfähig seien die Amerikaner, ihre individuelle, innere Geschichte lesen zu können. „Sie erinnern sich selten, wer sie vor ein paar Jahren waren, geschweige denn, vor ein paar Leben.“

Olga hingegen will noch viele innere Landschaften und ihre Gesetze entdecken. Das betont sie mit einer Entschiedenheit, die auf mich aufmunternd wirkt. Olga hat recht: Warum sich mit der Enge von Zeit und Raum zufrieden geben? Wissen wir nicht längst viel mehr als uns lieb ist? Träume, die inneren Stimmen, tägliche kleine Wunder… Aber daraus wirklich eine Praxis in Zeit und Raum abzuleiten, das ist schwer. Olga scheint ihre eigenen Zweifel nicht aussprechen zu wollen: „Ich weiß heute, alles Äußere entsteht zuerst innen. Draußen gibt es dafür die verschiedensten Leinwände, auf die du projizierst, was du erleben mußt.“ Dort entstehe letztlich jede Beziehung, jede Politik, jede Wissenschaft. „In Amerika wissen sowas nur noch die Indianer.“ Die will sie schon bald in einem ihrer Reservate besuchen. Vorerst ist sie in Albuquerque, ganz in ihrer Nähe, noch mit Workshops und Vorlesungen über ihre Ontologische Psychiatrie – wie sie ihre neue Arbeitsmethode nennt – beschäftigt. Es waren die dortigen Zuhörer, ihre amerikanischen Kollegen, die Olga baten, ihre Forschungsreisen aufzuschreiben. Und so fing es dann auch an: Olga schrieb ihr erstes Buch in Englisch, es erschien zunächst in den USA (Die Los Angeles Times : „Ein Buch so wichtig für die Neunziger wie Castanedas Lehren des Don Juan in den Sechzigern“) und dann in elf weiteren Sprachen. Wird es je in Rußland auf den Markt kommen? „Ich denke schon. Dann muß der Text allerdings für Russen etwas umgeschrieben werden.“ Sie seien zwar wie die Amerikner auf das Äußere fixiert, hätten aber doch auch einen ganz anderen Blick auf das Leben: „Wir Russen glauben, daß man sich nur durch tiefes Leid wirklich verändert. Je mehr, umso menschlicher oder klarer würde man.“ Denn Olga kennt sich und ihre Leute zu gut: „Wir wissen ein bißchen von früher, wie man gut leidet.“ Trotzdem klebten die Russen unnötigerweise immer noch zu sehr am Leid, so wie die Amerikaner am Gutdraufsein hängen. „Vielleicht hatten wir den Scherbenhaufen nötig, um nicht mehr ganz so verliebt ins Leid zu sein, auch mal das Leichte, Schöne zuzulassen. …“ Die Schatten der dünnen Zweige im Park sind länger geworden. Raben krächzen hinter uns. Raben? Olga trifft heute Abend zum Abschluß ein letztes TV-Team, bevor sie morgen zurück in die USA fliegt. Sie will noch eine Weile in dem Land der happy people bleiben, hat sogar eine zweite Wohnung in Los Angeles gemietet. Wird man sie dort verstehen können? Ihre Mischung aus gebildeter Klugheit und autentischem Wissen könnte schwer zugänglich sein im Land des Showbiz und der schnellen Märkte. Als hätte sie meine Zweifel gespürt, höre ich ihre Antwort: „Vielleicht werde ich auch irgendwann in Rußland eine eigene Klinik aufmachen.“ Dann steigt Olga mit Schwung ins fast schon fahrende Taxi. Diese Italo-Verrückten und ihre Autos! „Es sei denn….“ ruft sie mir noch zu und entschwindet. Der Mond über Mailand ist heute eine schmale Sichel. Zunehmend.

 

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